Ist die Rede von der Münchner Borstei, so geht es nicht um moderne Architektur, auch wenn der Baustart 1924 in die Zeit der klassischen Moderne fiel, zeitgleich zu den Errungenschaften des Bauhauses und der vom Deutschen Werkbund in München propagierten „industriellen Formgebung“, die nur drei Jahre später in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung unter der Leitung von Mies van der Rohe Gestalt annehmen sollte. Das Erscheinungsbild der Borstei ist eher bieder und mit Reminiszenzen an das 19. Jahrhundert garniert. Dennoch ist die Siedlung höchst bemerkenswert, da dort vorbereits 100 Jahren Ideen verwirklicht wurden, die heutige Architekten und Stadtplaner nach jüngsten soziologischen, ökologischen und infrastrukturellen Erkenntnissen ebenfalls zu realisieren bemüht sind: ein Stadtviertel als autarkes Dorf in der Stadt.
Im Grunde war Bernhard Borst (1883-1963) kein Architekt, auch wenn er als solcher in München tätig war und für einige Villen verantwortlich zeichnet. Den Zugang zum Bauen fand er übers Handwerk, war gelernter Maurer und absolvierte dann die Baugewerkschule in München. Nach ein paar Jahren Erfahrung in Architekturbüros machte er sich 1908 als Bauunternehmer und Architekt selbstständig. Offenbar sehr erfolgreich, nicht nur gemessen an dem Kapital, über das er zum Bau der Borstei verfügte. Musste er doch schon allein für das Grundstück von 90.000 Quadratmetern im Stadtteil Moosach 18 Millionen Reichsmarkzahlen. Er konnte beim Bau auch auf Materialien aus eigener Produktion zurückgreifen, denn er besaß eine Ziegelei bei Freising und ein Sägewerk in Thalkirchen.


Zunächst hatte Borst, der bis dahin nur Kleinbauten errichtet hatte, einen Architekturwettbewerb zum Bau der Siedlung ausgeschrieben, doch konnte ihn kein Architekt gänzlich überzeugen. Die Entwürfe, die im Glaspalast ausgestellt wurden, waren keinesfalls schlecht, doch Borst hatte eine klare inhaltliche Vorstellung, der offenbar kein Entwurf gerecht werden konnte. So setzte sich Borst kurzerhand selbst ans Reißbrett und entwarf, was er später so auf den Punkt brachte: „So suchte ich die Wohnfrage zu lösen: Das Schöne des Einfamilienhauses mit dem Praktischen einer Etagenwohnung zu verbinden. Dabei wollte ich alles auf die Entlastung der Hausfrau und auf die Gesundheit der Menschen abstimmen.“ Letzteres erreichte Borst unter Verwendung natürlicher Baustoffe. Die Ziegelwände sind mit Kalkmörtel gemauert, die Geschossdecken werden von Holzbalken getragen, für die Parkettböden ist slowenische Eiche verwendet, die Dämmung der Dachgeschosse ist mit Korkplatten gelöst und die Spenglerarbeiten auf den Dächern sind mit Kupferblech ausgeführt. Hinzu kamen Marmor aus Ruhpolding, Treuchtlingen und Solnhofen sowie Kalkstein aus Kelheim. Das meiste im Sinne der Nachhaltigkeit, auch wenn damals noch niemand ahnte, dass es einmal einen solchen Begriff geben würde. Borst legte vordringlich Wert auf die handwerkliche Verarbeitung, die auch Hochwertigkeit vermitteln sollte. Schließlich richtete Borst sein Wohnviertel auf eine Klientel aus dem wohlhabenderen Bürgertum aus, das Borsts Lebenskonzept und Interesse an Kunst und Kultur teilte.
Zum gesundheitlichen Aspekt zählt auch die Abgeschlossenheit der Siedlung, die heilsame Ruhe und mit ausgedehnten Grünanlagen einen Erholungswert bietet. Die 77 aneinandergereihten Häuser mit 773 Wohnungen und 73 Gewerberäumen schließen mehrere üppig begrünte Höfe ein, die über Tordurchgänge miteinander verbunden sind. Einige Brunnen und Teiche sorgen für Kühlung im Sommer. Von den 68.690 Quadratmetern der heute noch umfassenden Anlage (die Stadt erzwang flächenmäßige Zugeständnisse) sind nur 19.062 Quadratmeter, das sind etwa 23 Prozent (ursprünglich 21 Prozent), überbaut. Das grüne Angebot umfasst auch ein eigenes Botanikum, in dem Olivenbäume und sogar Palmen wachsen. Aber auch der Geist wird genährt, vor allem mittels zahlreicher Skulpturen sowie Reliefs und Fresken an den Fassaden. Kunst und Kultur, darüber hinaus ein soziales Miteinander schrieb Borst sehr groß. Nachdem er selbst in die Borstei eingezogen war, organisierte er Konzerte, Sommerfeste und sogar Faschingspartys für Kinder.
Die Idee einer Gemeinschaft ist im Grunde schon in der einheitlichen architektonischen Idee angelegt. Zudem stehen zentrale Einrichtungen zur Verfügung. Allen voran seit 1928 das erste zentrale Heizwerk Deutschlands, das die Zentralheizungsanlage bis in die Garagen speist, aber auch alle Wohnungen mit Warmwasser versorgt. Zu jener Zeit ein absoluter Luxus. Die Kohle fürs Heizkraftwerk konnte über eigene Gleisanschlüsse und Verladegleise an der Bahnlinie nach Dachau herangeschafft werden. Das Gas für die Kochherde lieferte das Gaswerk Moosach in unmittelbarer Nähe nördlich der Borstei.



Die gemeinschaftliche Infrastruktur ergänzen eine zentrale Wäscherei sowie ein Werkstatt- und Reinigungsdienst. Raffiniert ist die Absenkung der Innenhöfe, um die 286 Garagen in die Häuser integrieren zu können. Zusätzlich stehen noch 46 Stellplätze für Besucher zur Verfügung. Auch die ebenerdig angelegten Abstellräume für Fahrräder und Kinderwagen waren damals wohl ein Novum in der Ausstattung von Stadthäusern. Genauso wie die Verfügbarkeit von Telefonanschlüssen, die ab 1929 über eine Telefonzentrale verbunden waren.
Das Wohnungsangebot umfasst Objekte von zwei bis fünf Zimmern mit einer Durchschnittsgröße von etwa 91 Quadratmetern Wohnfläche. Insgesamt verfügen die 773 Wohnungen über eine Bruttogeschossfläche von 70.200 Quadratmetern. Dem Gebot des stillen Rückzugs wurde die Ausstattung zur verkehrsreichen Landshuter Allee hin mit Lärmschutzfenstern gerecht. Die eigene Infrastruktur mit einer Post, zwei Kindergärten, Arztpraxen und einem Café ist heute um einige Geschäfte, Kanzleien, Versicherungen, Architekturbüros et cetera erweitert. Im Prinzip ist das Quartier aktuell von der Versorgung her autark. 2006 eröffnete dort sogar ein eigenes Museum, das die Geschichte der denkmalgeschützten Borstei dokumentiert.
REINHARD PALMER
Erschienen im Tagesspiegel am 04.05.2024