Machen wir uns nichts vor: Unsere Verkehrsadern sind zu Kampfzonen geworden, in denen das Gesetz des Stärkeren die Regeln bestimmt, trotz strenger Straßenverkehrsordnung. Naturgemäß sind es die Autofahrer, die alle anderen Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger oder Radfahrer buchstäblich an den Rand drängen. Aber das ist nur ein Aspekt des Problems. Gerade in den Städten dient ja die Straße nicht nur zur Fortbewegung, sondern ist auch ein Bereich, in dem sich das öffentliche Leben abspielt.
Wo kein Innenhof vorhanden ist, wird der Gehweg sogar zum Spielplatz für Kinder. Außenbereiche von Gastronomie oder Einzelhandel können hier genauso Platz haben und zum Treffpunkt für die Nachbarschaft werden. Die Straße sollte also allen Bürgern gleichermaßen zur Verfügung stehen. Deshalb heißt das Planungskonzept der gleichberechtigten Nutzung des Straßenraums auch Shared Space.
Wo und wie man es realisieren kann, lässt sich nicht pauschal beantworten, denn jede Situation vor Ort ist einzigartig. Aber im Grunde sollte zumindest jedes Wohngebiet auch ein Lebensraum, daher auch als Shared Space geeignet sein. Methodisch bedarf die Umwandlung in einen Shared Space einer individuellen, ortsangepassten Gestaltung unter umfangreicher, aktiver Beteiligung der Bürger.
Öffentlicher Raum für alle
Die Planungsphilosophie des Shared Space stammt vom niederländischen Verkehrsplaner Hans Monderman (1945-2008), dem bei der Analysevon Verkehrsunfällen erhebliche Zweifel an den etablierten Methoden der Verkehrsplanung aufkamen. Je strikter und restriktiver die Regulierung des Verkehrs, desto mehr Unfälle verzeichnete die Untersuchung. Deshalb beschloss Monderman, die Verkehrsschilder zu entfernen und mit unkonventionellen Gestaltungsmitteln psychologisch, beziehungsweise suggestiv auf die Autofahrer einzuwirken. Sein Modellversuch im Dorf Oudehaske im holländischen Friesland fand Mitte der 1980er-Jahre statt.
Monderman nahm den Autofahrern die Weitsicht auf die zentrale Kreuzung und verschmälerte die Straße optisch mittels roter Klinkersteine und sandfarbenen seitlichen Saums. Aus der Durchgangsstraße wurde auf diese Weise eine Dorfstraße, ein Lebensraum. Diese Charakteränderung bewirkte, dass die Autofahrer statt im Durchschnitt mit 58 Stundenkilometern nur noch mit 37 Stundenkilometern durchführen. Unfälle blieben gänzlich aus. Die Idee des Shared Space war damit geboren und entwickelte sich weiter, um auch in komplexen Situationen der Großstädte Lösungen zu bieten.
Der grundsätzliche Ansatz, sich statt der Verbotsschilder psychologische Effekte zunutze zu machen, um freiwillige Verhaltensänderung zu bewirken, blieb. Es geht also um eine Neustrukturierung des öffentlichen Raumes, mit dem Ziel, aus dem Nebeneinander verschiedener Verkehrsflächen einen gemeinsam genutzten Raum zu kreieren, in dem weniger Verbote das Miteinander bestimmen als vielmehr das Sozialverhalten und die Vernunft der Nutzer. Das verhindert nicht nur Unfälle, sondern eröffnet neue Möglichkeiten im sozialen Zusammenleben.
In Deutschland dauert es immer sehr lange, bis neue Ideen aufgegriffen werden, insbesondere, wenn Autofahrer befürchten, in ihrer Freiheit eingeschränkt zu werden. Erst 2004 wurde daher das erste Modellprojekt in der niedersächsischen Gemeinde Bohmte im Landkreis Osnabrück gestartet. Die Umgestaltung, gestemmt dank der Infrastrukturförderung durch Interreg North Sea Region Programme der Europäischen Union, dauerte bis 2008. Der Ortwurde dabei in Vorzonen und Shared Space im Zentrum unterteilt. Die Shared-Space-Maßnahmen fokussieren die Unterzentren und Verkehrsschwerpunkte.
Das hohe Verkehrsaufkommen wurde mit einem einspurigen Kreisverkehr zum Fließen gebracht. Gestalterisch erfolgte eine Ausrichtung von Sichtachsen auf ortsbildprägende Gebäude, die optisch dem Durchfahrtcharakter entgegenwirken. Freiräume für Baumbepflanzung, Straßenlaternen und erweiterte gepflasterte Gehwege zur vielfältigen Nutzung, die von einmündenden Nebenstraßen nicht unterbrochen werden, gewannen die Planer durch die Verschmälerung der Fahrbahn. Bordsteine wurden als Bodenmarkierungen angedeutet, damit die Verkehrsordnung geklärt ist, doch schließen sich Freiräume, Grün- und Parkflächen ohne bauliche Trennungan, sodass der Shared-Space-Charakter den Ortskern dominiert.
Im Fall Bohmte ist das Ergebnis der Umgestaltung in Zahlen kaum ausdrückbar, denn die Unfälle waren zuvor genauso selten und meist Bagatellen. Die Anzahl der Fahrzeuge konnte aufgrund der Lage des Ortes nicht reduziert werden. Messbar ist lediglich die Verminderung der Lärm- und Luftbelastung dank eines verbesserten Verkehrsflusses. Bohmte hat aber an Lebensqualität gewonnen, was Aussagen der Bewohner eindeutig belegen. Feststellbar ist eine Verbesserung im Sozialverhalten der Bewohner zu einem besseren Gemeinschaftsgefühl hin.



Interessant ist festzustellen, dass obgleich die Nutzung des Shared Space alle Möglichkeiten offenhält, die Akteure sich dennoch stark an konventionelle Verhaltensmuster und Ordnung halten: Kraftfahrzeuge bleiben auf der Fahrbahn, Fußgänger auf dem Gehweg und Radfahrer benutzen vorwiegend den Gehweg. Es deutet darauf hin, dass wir erst wieder lernen müssen, den zurückgewonnenen Raum frei zu nutzen. Möglicherweise ist aber auch eine mangelhafte Aufklärung Ursache für die begrenzte Nutzung des Shared Space. Die Münchner hätten wohl weniger Hemmungen, einen Shared Space in Beschlag zu nehmen, sofern es einen in der Bayerischen Landeshauptstadt gäbe. Im Nu wäre es eine Partymeile, wie der zur Begegnungszone umgestaltete Gärtnerplatz zeigt. Ansonsten ist im Freistaat explizit als Shared Space lediglich der Theaterplatz in Coburg umgestaltet, wenn auch in einer sparsamen Variante. Außerhalb Bayerns schreitet die Anwendung des Shared-Space-Prinzips jedoch voran. Ein prominentes Beispiel findet sich in der in die Königstraße einmündenden Tübinger Straße in Stuttgart, die 2012 zum gut angenommenen Shared Space umgestaltet wurde.
REINHARD PALMER
Erschienen im Tagesspiegel am 06.09.2025