Die Stuttgarter Stadtoberen waren entsetzt: Das sehe ja aus wie ein Vorort Jerusalems oder wie ein italienisches Bergnest, mäkelten sie an dem Modell. Ausstellungsleiter Mies van der Rohe war von den Kritikern der Ausstellung des Werkbundes genervt. Auf die Dächer der Häuser einer Karte des Modells der Weißenhofsiedlung am Stuttgarter Killesberg malte er Satteldächer und Zwiebeltürmchen. So sähe es aus, wenn Rechtsmittel zur Verfügung stünden, schrieb er daneben. Zum Glück konnte die Siedlung mit 33 Häusern - von der Stadt Stuttgart finanziert - realisiert werden. Unter dem Nationalsozialismus drohte der Siedlung, die von rechtsgerichteten Agitatoren aufgrund der kubischen Bauweise mit Flachdächern als „Araberdorf“ diffamiert wurde, jedoch zweitweise der Abriss. 1939 hatte das Deutsche Reich das Areal erworben. Doch der Beginn des Krieges durchkreuzte die Abrisspläne.
viel Licht, Luft und Wärme
Nicht nur stilistische Gründe bewogen die 17 Architekten darunter bekannte Namen wie Le Corbusier, Walter Gropius, Hans Scharoun oder Pierre Jeanneret für die Werkbundausstellung 1927 Häuser mit Flachdächern zu planen. Le Corbusier schrieb, die Dachterrassen böten die Möglichkeit für ein gesünderes und besseres Wohnen. Seine Erweiterungen mit gedeckter Promenade, Blumengarten und Terrasse lüden ein zum Erholen und Sonnenbaden. Und darum ging es den Architekten bei der Planung der Häuser im kubischen Stil: Räumlichkeiten mit viel Licht, Luft und Wärme für die arbeitende Bevölkerung zu schaffen. Große, aufzuschiebende Fensterbänder boten vom Killesberg Aussichten auf die Stadt und brachten viel Licht in die Räume. Ein Novum für die damalige Zeit, in der dunkle Mietskasernen vorherrschten. Außerdem sollten die Räume funktional sein, ein flexibles, freizügiges Wohnen fördern und die Fläche bestmöglich nutzen.
Es gab mehrfunktionale Wohnbereiche mit Schiebewänden. Betten konnten verschoben und hochgeklappt werden. Die schnörkellose, minimalistische Einrichtung und klare Formen sollten auch Klarheit im Leben und Denken schaffen und die Flexibilität der Bewohner fördern. Minimalismus und kubischer Stil bedeuteten nicht, dass die Wände weiß gestaltet wurden. Vor allem Le Corbusier beschäftigte sich mit der farbigen Ausgestaltung von Außen- und Innenwänden. Die Farbpalette gedeckter Farben reichte von Rot- und Blautönen, bis zu Grün-, Gelbund Brauntönen. Bei Renovierungen wurden die ursprünglichen Farben jedoch größtenteils mit weißem Anstrich übertüncht.
Gebaut wurde mit kostengünstigen Materialien wie Leichtbeton, Korkplatten und Trockenbau. Teilweise wurden neue Methoden, wie die Vorfertigung von Betonelementen, eingesetzt. In nur vier Monaten Bauzeit konnten die 33 Häuser am Killesberg fertiggestellt werden.
funktionale Räume, flexibles und freizügiges Wohnen, bestmögliche Flächennutzung
Nach dem Ende der Werkbundausstellung wurden die Häuser von der Stadt Stuttgart vermietet. Zahlreiche Veränderungen an den ursprünglichen Räumlichkeiten durch die Mieter folgten. Erst 1980 wird die Siedlung umfänglich saniert. Dabei wird die rechte Hälfte des Doppelhauses von Le Corbusier im Inneren möglichst dem Originalzustand entsprechend mit der damaligen Farbgestaltung wiederhergestellt. Erst 2002 erhält die Stadt Stuttgart die Möglichkeit, das Doppelhaus von Le Corbusier zurückzukaufen. 2006 entsteht dort ein Museum, bei dem Besucher heute auf einem Rundgang durch das Haus den Urzustand der Räume mit Möbeln und Exponaten erfahren können. Auch ein Spaziergang durch die Siedlung, deren Häuser nach wie vor vermietet werden, lohnt sich. In einem Siedlungsplan sind alle beteiligten Architekten aufgeführt. Zehn der 33 Häuser wurden jedoch in der Kriegs- und Nachkriegszeit zerstört. 2016 wurde das Doppelhaus von Le Corbusier und Pierre Jeanneret gemeinsam mit dem dreigeschossigen Haus Citröhan in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Das Citröhan-Haus ist eines von drei Prototypen, die Le Corbusier entwickelt hat, um ein Haus zu schaffen, das sowohl in Serie als auch maschinell gebaut werden kann. Es gilt als das am weitesten entwickelte Projekt seiner Idee eines logischen und wirtschaftlichen Zuhauses für alle, die Le Corbusier sinnbildlich als „Maschine des Wohnens“ bezeichnete.
Weitere Siedlungen des Werkbundes entstanden in Polen, der Tschechischen Republik und in Österreich. Auch in Düsseldorf, Oberhausen, Köln, München und Paris wurden Siedlungen nach dem Vorbild der Weißenhofsiedlung realisiert. Durch Abriss und den Zweiten Weltkrieg sind die meisten Siedlungen und Häuser jedoch nur noch unvollständig vorhanden.
Der 1907 gegründete Deutsche Werkbund hat in seiner langen Geschichte wesentliche Impulse zur Industrie- und Gestaltungskultur gegeben und deutschen Produkten eine hervorragende Position auf dem Weltmarkt verschafft. Als übergreifende Qualitätskriterien ihrer Produkte gelten die Funktionalität und Materialgerechtigkeit. Für Baukultur und Formgebung wurden im Zusammenspiel von Kunst, Industrie und Handwerk Meilensteine der Gestaltung gesetzt. Der Deutsche Werkbund existiert heute als gemeinnützige Initiative zahlreicher engagierter Gestalter, kulturell-gesellschaftlich engagierter Personen, Selbstständigen und Unternehmen, die interdisziplinäre Themen aus den Bereichen, Architektur, Wohnen, Design, Kunst, Denkmalpflege, Landschaftsgestaltung, Soziales und Energie verfolgen, ohne selbst ein berufsständischer Interessenverband zu sein. Der Deutsche Werkbund ist ein eingetragener Verein, der sich in einzelne, selbstständige Landesverbände gliedert. Die Mitglieder werden zum Deutschen Werkbund berufen. Für seine Ziele setzt sich der Deutsche Werkbund auch auf europäischer Ebene mit Veranstaltungen, Publikationen, Projekten und Ausstellungen ein.
WOLFRAM SEIPP
Erschienen im Tagesspiegel am 05.10.2024