Ein Tal im Wandel der Zeit - sozusagen aus einer Hand und über die Architektur erzählt, das gibt es nicht oft. Die nach und nach digitalisierten historischen Schwarz-Weiß-Fotografien von Karl Max Kessler aus dem Kleinwalsertal zeigen die Veränderungen des abgelegenen Bergtals hin zum Tourismusort, transportiert über Bilder von Architektur, Innenarchitektur und Mobiliar. Hinter dem Projekt stehen die Enkel Mathias und Bettina Kessler aus Riezlern im Kleinwalsertal.


Schon im 13. Jahrhundert vom alemannischen Bergvolk der Walser besiedelt, bildet das zum österreichischen Bundesland Vorarlberg gehörende Tal eine Art Enklave. Es öffnet sich nach Norden zum Allgäu und ist nur von deutscher Seite von Oberstdorf über Straßen erreichbar. Die einstige Abgeschiedenheit des 15 Kilometer langen Tals sorgte auch dafür, dass zahlreiche Spuren der alten Bergbauernkultur erhalten blieben. Längst ist Tourismus hier der wichtigste Wirtschaftsfaktor, bereits 1960 erreichte die Nächtigungszahl eine Million. Mit angekurbelt hat diese Dynamik einer der Pioniere des Tals: Karl Max Kessler, Jahrgang 1880, Tischler, Jäger, Unternehmer - und Fotograf. Sein Enkel Mathias Kessler erinnert sich: „Vor über 100 Jahren hat mein Großvater die ersten Ski nachgebaut, erst für sich, dann für Gäste. Mit 20 Jahren kaufte er eine Kamera und ließ sich außerhalb des Kleinwalsertals zeigen, wie man damit umgeht. Er fotografierte auf Glasplatten, wollte ein Kino aufmachen, besaß das erste Auto im Tal. Er bewies echten Pioniergeist.“ Bis zu seinem Tod 1960 legte der Kessler Max die Kamera nicht mehr aus der Hand. So sammelte der Großvater im Laufe seines Lebens ein ganzes Archiv an, rund 10.000 Motive, die oben auf dem Dachboden lagerten. Ein Schatz, den es zu heben galt, das war Enkel Mathias und Schwester Bettina Kessler klar. Mathias, selbst Fotograf, Künstler und Kurator, lebte mit seiner Familie über 25 Jahre in New York, bevor er in die Heimat zurückkehrte. Die Geschwister machten sich ans Werk - an die teure Digitalisierung und Restaurierung der alten Glasplatten und Negative, um sie für die Nachwelt zu erhalten, rund 2000 davon sind bereits gescannt.
Welchen Blick hatte der Großvater, der auch Postkarten produzierte, nahm er eine eher touristische Perspektive ein oder die des Einheimischen? Beides! Er hatte ein geschultes Auge, da er Jäger war und gut im Beobachten, hat also seinen Blick buchstäblich fokussiert und durch einen Rahmen geschaut und so die Welt betrachtet. Daneben hat er aus Vielem ein Geschäft gemacht, aber mit Leidenschaft. Er hat Chancen entdeckt, insgesamt hat sich das Tal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts enorm entwickelt“, erzählt Mathias Kessler.


Gipfel und Talböden, uralte Walserhäuser und manch Bausünde, Bauernstuben und Midcentury-Bauten, Menschen auf Skiern oder in Tracht - was kann man aus der Vielzahl der Archiv-Bilder ablesen? Den Wandel!“, sagt Mathias Kessler prompt. „Hier ist viel so gebaut worden, doch manche Häuser sind im Kern bis zu 600 Jahre alt, auch unser Elternhaus ist historisch, wurde stetig erweitert. Es sind typisch Walser Streusiedelungen, es wurde ökonomisch gebaut, gemäß der Tradition hat der älteste Sohn geerbt, die Geschwister mussten als Knechte arbeiten, so blieb der Besitz erhalten.“
Nicht nur ein Nebeneffekt der Archiv-Präsentation: Mittels Ausstellungen und Veröffentlichungen der Bilder per Website und auf Social Media entstehen neue Kontakte, ein Netzwerk. „Es kommt immer mehr Feedback, wir organisieren Erzählcafés, bringen Jung und Alt in einen Austausch, das Miteinanderreden ist gesellschaftlich relevant. Es gibt hier ja kaum andere Kultur außer Blasmusik“, sagt Mathias. Obendrein haben die Kesslers ein Artist-in-Residence-Programm aufgelegt, für das jeweils ein Künstler eingeladen wird, beispielsweise David Brooks aus New York, der schon im Museum of Modern Art in NY ausstellte.
FRANZISKA HORN
Erschienen im Tagesspiegel am 02.03.2024