Mit der Eröffnung des Klinikums Großhadern im Jahr 1974 begann auch die Entwicklung des heutigen Medizin- und Life-Science Campus Großhadern/Martinsried. Dabei haben die Kliniken, Zentren, Institute und Abteilungen des LMU Klinikums Medizingeschichte geschrieben: zum Beispiel die Klinik und Poliklinik für Neurologie, die im Klinikum Großhadern eine Einrichtung der ersten Stunde war. Unter ihrem ersten Direktor, dem Neurologen und Lehrstuhlinhaber Professor Adolf Schrader, gehörte neben den Normalstationen schon bald eine erste neurologische Intensivstation zur Klinik. Und er war es auch, der 1976 die damals revolutionäre Technik der Computertomographie zur Überwachung einseitiger Hirnschwellungen etablierte. In den folgenden Jahren entwickelte die Klinik ein breites Versorgungsspektrum mit neuen Schwerpunkten: von der Neurophysiologie- und Ultraschalldiagnostik bis hin zu einer eigenständigen Abteilung für Neuroradiologie.
Schraders Nachfolger Professor Thomas Brandt etablierte weitere Einrichtungen, etwa für Epilepsiemonitoring, kognitive Neurologie und 1996 auch eine Schlaganfall-Spezialstation – eine der ersten in Deutschland. Die dafür notwendigen Voraussetzungen waren zu dieser Zeit selbst für ein Universitätsklinikum keine Selbstverständlichkeit: allen voran die apparative Ausstattung mit bildgebenden Verfahren wie CT, MRT und Ultraschall, aber auch eine zentrale Überwachungsanlage zur Rund-um-die-Uhr-Überwachung der Vitalfunktionen und des Neurostatus durch ein spezialisiertes Ärzte- und Pflegeteam. Was in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Zu dieser Zeit war der Schlaganfall offiziell noch gar nicht als neurologische Erkrankung anerkannt. Erst 2017 gruppierte der WHO-Diagnoseschlüssel ihn endgültig um: von den Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den Bereich „neurologische Erkrankungen“. Für einen Neurologen nur folgerichtig: „Denn es sind ja Hirnfunktionen, die bei einem Schlaganfall ausfallen. Dabei kommt es leider oft zu bleibenden neurologischen Schäden, die die Patienten für den Rest ihres Lebens begleiten“, erklärt der Leiter der Stroke Unit Professor Lars Kellert. Inzwischen gehören zur Stroke Unit 20 Überwachungsbetten – für nunmehr rund 1500 Schlaganfallpatienten pro Jahr.
Seit 2014 koordiniert die Neurologische Klinik zudem das Neurovaskuläre Netzwerk Südwestbayern (NEVAS), das die Telemedizin nutzt, um gefährliche Zeitverzögerungen bei Schlaganfallpatienten zu vermeiden. Drei neurovaskuläre Zentren der Maximalversorgung gehören NEVAS an, neben der Neurologie des LMU Klinikums auch das BKH Günzburg und das Klinikum Ingolstadt. Insgesamt versorgt NEVAS jährlich etwa 6500 Betroffene im gesamten Südwesten Bayerns in 19 angegliederten Kooperationskliniken.
2009 wurde auf Initiative von Professor Brandt das erste Integrierte Forschungs- und Behandlungszentrum für Schwindel, Gleichgewichts- und Augenbewegungsstörungen in Deutschland gegründet: das heutige Deutsche Schwindel- und Gleichgewichtszentrum, kurz DSGZ. In den darauf folgenden zehn Jahren wurde die Einrichtung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit fast 40 Millionen Euro gefördert. Das Ziel: Die Patientenversorgung über eine fachübergreifende Kooperation zu stärken, neue wenig belastende Untersuchungen und überhaupt einheitliche Standards in Diagnostik und Therapie zu entwickeln. Mittlerweile gehört das DSGZ, das seit 2019 ein interdisziplinäres Zentrum am LMU Klinikum ist und von dem Neurologen Professor Andreas Zwergal geleitet wird, zu den weltweit führenden Einrichtungen für die Diagnostik und Therapie von Schwindelerkrankungen. Viele Untersuchungen und Diagnosekriterien, die hier entwickelt wurden, sind heute Standard.
Derzeit koordiniert das DSGZ europäische Forschungsverbünde wie das DIZZYNET und beteiligt sich zentral an der Ausbildung von Wissenschaftlern zum Thema „Schwindel und Gleichgewichtsstörungen“ im Rahmen des europäischen Marie Curie Netzwerks PROVIDE. Aber auch auf nationaler Ebene werden mit eingeworbenen Fördermitteln eine Reihe großer Forschungsvorhaben an großen Patientenzahlen durchgeführt.
Im Laufe der Jahre hat die Neurologie viele Subdisziplinen ausgebildet. Professorin Marianne Dieterich, seit 2008 Nachfolgerin von Professor Brandt als Direktorin der Neurologischen Klinik, führte das Konzept einer breit aufgestellten Neurologie mit verschiedenen Spezialbereichen bei gleichzeitig enger Verknüpfung mit den Nachbardisziplinen fort. Unter ihrer Leitung wurde zum Beispiel die Interdisziplinäre Zentrale Notaufnahme am Campus Großhadern neu organisiert und auch exemplarisch – für andere Kliniken – ausgebaut, erstmals mit einem Neurologen als Leiter.
Auch Professor Günter Höglinger, der seit Anfang 2023 Lehrstuhlinhaber und Klinikdirektor der Neurologischen Klinik sowie des Friedrich-Baur-Instituts am LMU Klinikum ist, versteht das Konzept der Diversifizierung unter Wahrung der Einheit seines Fachs als zukunftsweisend: „Einrichtungen wie das Friedrich-Baur-Institut, das Institut für Schlaganfall und Demenz, das Institut für Neuroimmunologie oder auch das Deutsche Schwindel- und Gleichgewichtszentrum sind mit der Neurologischen Klinik eng verknüpft.“ Und weil die neuroimmunologischen, neurovaskulären und neurodegenerativen Krankheiten in einer Gesellschaft im demografischen Wandel auf dem Vormarsch seien, habe die Intensivierung der Kooperation zwischen den verschiedenen neurologischen Subdisziplinen weiterhin oberste Priorität. Ebenso gelte es, die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Kliniken zu stärken, die Patienten mit vaskulären Erkrankungen behandeln: „Diesem Ansatz trägt auch unser neu gegründetes Neurovaskuläres Zentrum am LMU Klinikum Rechnung“, so Höglinger. Schon jetzt sind neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Alzheimer-Krankheit und andere Demenzformen, aber auch Bewegungsstörungen wie die Parkinson-Krankheit, Multiple Sklerose, Epilepsien und Nerv-Muskel-Krankheiten in Europa die dritthäufigste Ursache von Behinderungen und vorzeitigen Todesfällen. „Wir rechnen damit, dass die Zahl der Erkrankungen weiter zunehmen wird – und darauf bereiten wir uns vor“, betont Professor Höglinger.
Nicole Schaenzler
Erschienen im Tagesspiegel am 17.05.2024