Sprachlabor (20):Ein beherztes Jein

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger über die Gemeinsamkeit von Epizentrum und Quantensprung, Mund-zu-Mund-Propaganda und den Status des Bauchgefühls.

Hermann Unterstöger

Was das Epizentrum mit dem Quantensprung verbindet, ist der Umstand, dass beide ein Zweitleben führen. Darin wird der Quantensprung als gewaltiger Fortschritt verstanden, wenn nicht sogar als Meilenstein, obwohl er sich in Wirklichkeit doch in der winzigen Welt der Atome abspielt.

Die undatierte Aufnahme zeigt den Fremdsprachenunterricht im Sprachlabor einer Schule in Frankfurt am Main. (Foto: Foto: dpa)

Das Epizentrum hingegen führt sein zweites Leben als Zentrum, das es aber mitnichten ist: Epizentrum kommt aus dem Griechischen und meint das Gebiet über dem Erdbebenherd, epí kéntro. Im Bericht über den verkehrsberuhigten Times Square hatte es geheißen, dieser sei vorher "das Epizentrum des New Yorker Verkehrsinfernos" gewesen, eine Definition, aus der unser Leser Dr. W. den Schluss zog, das Chaos habe sich möglicherweise unter Tage abgespielt. Die Zeit hatte, kundig auch hierin, das Weiße Haus einmal als "so etwas wie das Epizentrum erotischer Erdbeben" apostrophiert und war mit diesem Beleg in den Duden gekommen. Ein Quantensprung? Könnte man so sagen.

Wann immer in einem Text mit der "Mund-zu-Mund-Propaganda" gearbeitet wird, kommt der Leser - im aktuellen Fall unser Freund S. - mit dem Hinweis, dass das "Mundpropaganda" heißen müsse, allenfalls "Mund-zu-Ohr-Propaganda", und dass sonstige Mund-zu-Mund-Aktivitäten unter Fremden zu unterbleiben hätten.

Dazu bietet sich ein beherztes Jein an, weil es einerseits richtig ist, dass die Propaganda vom Mund zum Ohr läuft. Andererseits ist die Wendung "von Mund zu Mund" so alt wie die Propaganda, wenn nicht älter; sie nennt die Hauptakteure, und das Ohr spielt ohne Gage mit. Ein Klassiker gefällig? "...so gingen denn", schreibt Karl Kraus, "in ganz Österreich Gerüchte von Mund zu Mund, die nichts Geringeres besagen wollten, als dass in Wien Gerüchte verbreitet seien, es seien in ganz Österreich Gerüchte verbreitet."

Gewerkschaftern seien Leistungsprämien oft suspekt, "weil sie auf ihr Bauchgefühl bestehen, wonach so etwas nur zur Willkür führt". So kürzlich ein Kommentator, und Leser E. monierte unverzüglich, dass es "auf ihrem Bauchgefühl" heißen müsse. Das ist richtig, wobei im Grimm die schöne Unterscheidung zu finden ist, wonach bestehen den Dativ nach sich zieht, wenn die Sache, auf der jemand besteht, schon da ist, den Akkusativ hingegen, wenn die Sache erst erstrebt wird. Das Bauchgefühl darf als immer schon vorhanden gelten, und das nicht nur bei Gewerkschaftern.

© SZ vom 27.06.2009dab - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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