Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor (34):"Morgenstund ist aller Laster Anfang"

SZ-Redakteur Hermann Unterstöger über verdrehte Metaphern und warum ein Skandal nicht "auffliegen" kann.

Hermann Unterstöger

Ihren stärksten Auftritt hat die Hutschnur in Schillers "Räubern", wenn Franz Moor (die Kanaille, richtig) sich selbst in die Hölle befördert. "Er reißt", wie es in der Regieanweisung heißt, "seine goldene Hutschnur ab und erdrosselt sich", eine Tat, die den Räuber Schweizer, der ihn lebend zu seinem Hauptmann Karl Moor hatte bringen wollen, so verdrießt, dass er seinerseits "sich vor die Stirn" schießt. Mit einiger Untertreibung könnte man sagen, der Selbstmord Franzens sei ihm über die Hutschnur gegangen.

Womit wir bei unseren Lesern Dr. R. und H. wären, denen ebenfalls etwas über die Hutschnur ging, nämlich dieser Satz aus einem Bildtext: "Als aber Nadjas Cousins vor der Tür stehen, platzt John erneut die Hutschnur." Vor solch verdrehten Metaphern - etwa "Morgenstund ist aller Laster Anfang" - ist niemand ganz sicher, und genau das widerfuhr Herrn H., als er die geplatzte Hutschnur ironisch kommentierte: "Da kann einem aber schon der Kragen reißen." Das freilich tut der Geduldsfaden, und ob dieser als Hutschnur geeignet wäre, kann mit letzter Gewissheit nur eine Modistin sagen.

Da haben wir den Salat Etwas sehr ähnliches hat unser Leser Dr. L. in der Dachzeile der letzten Wochenendausgabe gefunden: "Wie der britische Spesenskandal aufflog." Seinem Verständnis nach fliegt nicht der Skandal auf, sondern der Täter oder, wie wir unter Berufung auf den Duden hinzufügen, die Tat: "Endlich sind seine ewigen Betrügereien aufgeflogen." Erst wenn dies geschehen ist, haben wir den Salat, also den Skandal.

Es nistet vornehmlich in Glossen, das dem Substantiv pathetisch vorgeschaltete Pronomen welch. "Welch Vorstellung!", rief ein Glossist kürzlich im Lokalteil; kein Mensch weiß, wieso er dem eh nur aus fünf Buchstaben bestehenden Wörtchen das "e" vorenthalten hat. Der Grammatik nach tritt das ungebeugte welch in Ausrufen vor ein oder attributiven Adjektiven auf: "Seht, welch ein Mensch!" (Joh 19, 5) oder "Welch reicher Himmel! Stern bei Stern!" (Goethe).

Es geht aber auch ohne diese Einschränkung, wie die Literatur lehrt. "Welch Entsetzen! welche Wahl!", heißt es abermals bei Goethe, und wenn man aus diesem und ähnlichen Zitaten etwas ableiten darf, dann die generelle Vermutung, dass sich das ungebeugte welch bei sächlichen Substantiven am besten macht.

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Quelle:
SZ vom 02.10.2009/ag/pfau
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