Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor (186):Ohne Rücksicht aufgenommen

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger schaut im Duden und bei Google nach.

"ALL MEIN DICHTEN, / lohnt sich mir's? / Wert ist's kaum / des Stück Papiers." Und ob sich ihr's gelohnt hat! Friederike Kempner, die schlesische Nachtigall, wird für solche Verse und überhaupt all ihr Dichten bis heute innig geliebt. War demnach lohnenswert , was sie zuwege gebracht hat? Kürzlich tauchte dieses Wort bei uns wieder einmal auf, und zwar im Streiflicht. Darin war von einer "lohnenswerten Lektüre" die Rede, was Leser B. so verdross, dass er gleich auch noch dem Duden vorwarf, er nehme jeden Quark ohne Rücksicht auf sprachliche Richtigkeit auf. In der Tat führt der zehnbändige Duden von 1999 lohnenswert im Sinne von lohnend und stützt das mit einem Zitat aus der Hörzu 43/1976. Nichts gegen dieses Blatt, aber der Referenzwert seiner Texte ist denn doch begrenzt. Freilich sitzen wir nun selbst im Glashaus, lassen also das Steinewerfen lieber sein.

WIE ANDERS ist da doch der Referenzwert des antiken Architekturtheoretikers Vitruvius, den Karl Ernst Georges heranzog, als er in seinem lateinisch-deutschen Wörterbuch einen Beleg für das Verbum percolari brauchte. Vitruvius beschreibt einmal, wie die Schmelzwässer "per terrae venas percolantur", also im Erdinneren versickern, und wenn man das intus hat, versteht man auch den Sinn dessen, was bei uns über das Anthropozän geschrieben stand: dass dieser Begriff durch die verschiedensten Disziplinen "perkoliert". Unser Leser W. hatte es nicht intus, und weil er wahrscheinlich nicht der Einzige war, der über das Wort stolperte, haben wir die Chose etwas ausführlicher dargestellt. Möge das Ergebnis in alle Leserschichten perkolieren!

WER KOMPOSITA mit wohl- mutwillig auseinanderreißt, kommt schneller in die Wüste, als er schauen kann. Es ist schließlich etwas ganz Anderes, ob jemand wohlbeleibt oder wohl beleibt ist: im zweiten Fall vermutet man es nur. Ähnlich riskant ist es, Komposita mit meist- zu trennen. Leser S. hat so ein Wagnis entdeckt. Nord- und Ostsee, hieß es da, zählten "zu den meist befahrenen Wasserstraßen der Welt". Tatsächlich gehören sie zu den meistbefahrenen Gewässern, was freilich einschließt, dass sie meist auch befahren sind.

GIBT MAN BEI GOOGLE das Wort Manneskraft ein, erhält man Treffer, meilenweit von dem entfernt, was bei uns kürzlich als Manneskraft präsentiert wurde. Es ging um einen alten Bahnhof, bei dem "das mit Manneskraft zu bedienende Stellwerk" herausgerissen worden war. Unser Leser Dr. W.-L. fragte sich, wie Freudianer das wohl gelesen und verstanden haben mochten.

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Quelle:
SZ vom 02./03.02.2013
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