Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Zusammen feiern und Bier trinken.

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Die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine setzt viele Gedanken frei.

Agnieszka Kowaluk

Das schöne polnisch-ukrainische Logo der Fußball-Europameisterschaft habe ich erst kürzlich auf den Panini-Bildern meiner Tochter so richtig bewusst wahrgenommen. Es löste in mir angesichts des näher rückenden EM-Eröffnungsspiels in Warschau einen Reigen an Bildern aus. So musste ich an ein Seminar in Ostpolen denken, bei dem Jugendliche aus Bayern gegen die Schüler des örtlichen Gymnasiums spielten - in strömendem Regen. Ich weiß nicht mehr, wer die Wasserschlacht von Wola gewonnen hat. Ich erinnere mich aber an das ungläubige Lächeln der harten Dorfjungs beim Anblick der Mädchen in der deutschen Mannschaft - Fußball ist in Polen eigentlich keine Frauensache.

In dem wunderbaren Buch "Totalniy Futbol" mit Essays ukrainischer und polnischer Schriftsteller zur EM las ich über eine Protestaktion von Frauen beider Länder gegen den Sextourismus. Sie richteten ein rein weiblich besetztes Match aus, bei dem die beiden Mannschaften das Sexbusiness beziehungsweise den Sexappeal symbolisieren sollten. Die Anmut gewann gegen die Prostitution. Die Schriftsteller schrieben aber nicht nur Essays im Vorfeld der EM. Zusammen mit Literatenkollegen aus Polen und der Ukraine setzte Thomas Brussig, Gründer der deutschen Autorennationalmannschaft (Europameister 2010!), einem EU-Boykott des ukrainischen EM-Teils ein Zeichen eigener Art entgegen: Sie feierten in Berlin, Lemberg und Krakau ein Fußballfest - auf dem Rasen und bei gemeinsamen Lesungen.

Am Mittwoch signalisierten nach Angaben von Polens Ministerpräsident Donald Tusk die meisten Brüsseler Gipfelteilnehmer, die Verurteilung des politischen Prozesses gegen Julia Timoschenko vom Sport zu trennen. Ich dachte gleich an den Lemberger Künstler, der beim Schnitzen seiner Holzfiguren, von denen er möglichst viele während der Spiele verkaufen will, dem deutschen TV-Team sagte, es wäre schön, wenn Menschen in die Ukraine kämen, zusammen feiern und zusammen Bier trinken. Um Bier sorgen sich jetzt schon auch irische Fans, wie man der Gazeta Wyborcza entnehmen konnte. Sie appellieren an die Wirte in Polen: Bereitet viel Bier vor! Bei der WM in Italien 1990 seien bereits nach drei Tagen die Biervorräte alle gewesen.

Vor dem Hintergrund mancher Äußerungen zum Thema Nationalität in Nationalmannschaften musste ich an zwei deutsche Fußballer denken, die Thomas Urban in seinem Buch "Schwarze Adler, Weiße Adler" erwähnt. Ernst Willimowski, der geniale Stürmer, schoss vor 1939 für Polen 21 Tore in 22 Spielen. Als Volksdeutscher spielte er 1941/42 auf deutscher Seite. Der andere war Friedrich Scherfke, 1938 Kapitän der polnischen Nationalmannschaft, während des Krieges Wehrmachtssoldat. Er befreite mehrere ehemalige polnische Clubkameraden aus deutscher Gefangenschaft und rettete sie vor der Deportation. Als ich den DFB-Pokal in den Händen der Spieler von Borussia Dortmund sah, zu dem Robert Lewandowski seinem Verein mit drei Toren verhalf, wurde mir klar, was es bedeutet, wenn Fußball heute nicht mehr unter die Räder der Politik kommt. In der Nationalelf, dachte ich, bayerischen und polnischen Patriotismus miteinander verzwirbelnd, spielen Lewandowski und Neuer bei der EM sicher zusammen. Dass der Dortmunder bei Polen spielt - spielt das wirklich eine Rolle?

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Agnieszka Kowaluk ist Journalistin und Literatur-Übersetzerin. Sie berichtet unter anderem für die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

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Quelle:
SZ vom 26./27./28.05.2012
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