Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Wo bitte liegt Itzehoe?

Reichhaltiges Kulturangebot und dazwischen Thilo Sarrazin.

Pascale Hugues

Itzehoe? Die Pressesprecherin der Deutschen Verlagsanstalt weiß im ersten Augenblick gar nicht, wo ihr Bestsellerautor als Nächstes auftritt, so ausgedehnt sind inzwischen seine Reisen quer durch die Republik. Ich google Itzehoe: 34 000 Einwohner, eine Stunde Zugfahrt nördlich von Hamburg, "reichhaltige Kulturangebote". Allerdings. Vergangene Woche hat Thilo Sarrazin dort sein Buch vorgestellt. 1,2 Millionen verkaufter Exemplare innerhalb weniger Wochen. Ein aufgeregter Chefredakteur ruft mich aus Paris an und fragt: Wer ist dieser Mann? Warum ist er so erfolgreich?

Itzehoe also, an einem gruseligen Januarabend. Stockdunkel. Blitzeis. 200 Polizisten. Ein Dutzend Schäferhunde mit Maulkorb. "Schämt euch" skandieren um die 50 Demonstranten an die Adresse von 300, die im eisigen Nieselregen vor dem Stadttheater Schlange stehen. Es handelt sich um rechtschaffene und gut gekleidete Herren mit ihren Gattinnen im Schlepptau. Die lokale FDP hatte Sarrazin eingeladen, um ihrem eigenen Dreikönigstreffen Würze zu verleihen. Der Kreisverband Itzehoe musste ins Theater ausweichen, um den vielen Interessierten Platz zu bieten. Der Vorsitzende verspricht einen "spannenden Abend". Ich fühle mich wie in einer Einöde, weit weg von Berlin. Auf der Szene, im Scheinwerferlicht, sitzt ein einsamer Mann an einem Tisch. Er hält sich steif wie ein preußischer Zinnsoldat in seiner Tweedjacke. Hinter den Vorhängen stehen sprungbereit drei Bodyguards. "Danke, Thilo", jubelt der Saal. Der Urheber der kochenden Polemik hat weiße Haare, einen dichten Schnurrbart und ein seltsames Grinsen, verursacht durch eine Tumoroperation am rechten Ohr. Das also ist der Messias, der die deutsche "Ethnie" retten will? Thilo Sarrazin hat gar nichts von einem charismatischen Tribun, wenn er seine Thesen mit dem Charme und der Regelmäßigkeit eines Metronoms abarbeitet, eine nach der andere. Dies hier ist der Volkshochschulkurs eines gestrengen Ökonomen. Eine Kaskade von Zahlen und Statistiken. In Itzehoe hängt das Publikum volle drei Stunden an seinen Lippen. Auf meinem Stuhl in der ersten Reihe habe ich Mühe, die Augen offen zu halten.

Warum begeistern sich so viele Deutsche für einen so wenig verführerischen Mann? Warum heben sie ein schwer verdauliches Pamphlet in den Bücherhimmel, 464 Seiten, die die meisten kaum gelesen haben dürften und die keine der Ingredienzien eines Bestsellers enthalten? Bis zu 18 Prozent würden für eine Partei mit einem Vorsitzenden Sarrazin stimmen. Ein deutsches Phänomen? Ich denke an den Erfolg des Front National in Frankreich. "Der Islam wird von 40 Prozent der Franzosen und Deutschen als Bedrohung empfunden", titelt am selben Tag die Zeitung Le Monde über eine neue Umfrage in beiden Ländern.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

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SZ vom 15./16.01.2011/ib
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