Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Wenig diplomatische Äußerungen

Die französische Finanzministerin Christine Lagarde hat Deutschland wegen wirtschaftlicher Ungleichheit in der EU heftig kritisiert.

Pascale Hugues

Christine Lagarde ruft Deutschland zur Ordnung auf. Sie rät Frankreichs großem Nachbarland, seine Binnennachfrage zu stärken, weil sein Handelsüberschuss die Wettbewerbsfähigkeit anderer Euroländer bedrohe.

"Könnte Deutschland nicht ein klein bisschen mehr tun?", fragt die französische Finanzministerin. "Jeder muss seinen Teil beitragen."

Verzeihen Sie mir den etwas brüsken Vergleich, aber Christine Lagarde erinnert mich an meine elsässische Großmutter. Getragen von seinem Wirtschaftswunder blühte Deutschland in den Siebzigern auf der anderen Seite des Rheins geradezu auf.

Seine Straßen waren besser gepflastert, seine Häuser herausgeputzter, seine Autos größer und sein Lebensstandard höher als unserer.

Die Deutschen, beobachtete meine Großmutter, die zwei Weltkriege erlebt hatte und zweimal sah, wie die "Boches" besiegt und gedemütigt sich wieder über die Rheinbrücke zurückzogen, diese Deutschen atmeten nun auf, vor Gesundheit und materiellem Wohlstand strotzend. Und meine Großmutter ließ zielsicher diesen einen Satz los, der mir zu Denken gab: "Sie sind reicher als wir, und das, obwohl sie den Krieg verloren haben."

Meine ganze Kindheit über habe ich wie viele Franzosen dieses Bild von den Deutschen im Kopf gehabt, das Bild unglaublich leistungsstarker Menschen, die in der Lage sind, ihre Ärmel hochzukrempeln, nachdem sie die größte Katastrophe des Jahrhunderts verursacht hatten, die arbeiten wie die Wahnsinnigen und sich dabei noch den Gürtel enger schnallen.

Ein Bild von Menschen, die nicht sehr witzig sind, dafür aber effizient, kompetent, streng und moralisch. Und dieses Bild bestätigt sich, muss ich gestehen, jedes Mal, wenn ich eine Reportage in einem deutschen mittelständischen Unternehmen mache. Hier herrscht ein anderer Geist als in französischen Betrieben, ein größerer Arbeitseifer, mehr Ernsthaftigkeit und eine größere Harmonie zwischen Geschäftsführung und Beschäftigten.

Ich würde mir nicht erlauben, meine Großmutter mit der einflussreichen Madame Lagarde zu vergleichen oder gewagte Rückschlüsse zu ziehen, geschweige denn über unterdrücktes Leid zu psychologisieren, aber dass der Groll tief sitzt, könnte ein Stück weit die etwas rüden Bemerkungen der französischen Ministerin erklären.

Es liegt mir fern, solch kühne Interpretationen anzustrengen. Aber wie kommt es zu diesen wenig diplomatischen Äußerungen der Ministerin? Warum diese Einmischung in die Angelegenheiten des Nachbarlandes? Ist es nicht dreist, den Deutschen vorzuwerfen, ihre nationalen Interessen zu schützen und Europa den Rücken zuzuwenden?

Haben sie nicht einfach einen guten Job gemacht und sind Klassenbeste in Europa? Seit zehn Jahren ergreifen sie drakonische und schmerzhafte Maßnahmen, um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft zu erhalten. Jetzt ernten sie die Früchte ihrer Disziplin und Askese.

Ja, ich verstehe die Irritationen und sogar den Ärger in der deutschen Politik und Wirtschaft über Madame Lagarde. Was mischt sie sich ein? Und vor allem: Was hindert die Franzosen, das Gleiche zu tun?

Seit Tagen geht mir ein Gedanke nicht aus dem Sinn: Man stelle sich umgekehrt vor, Wolfgang Schäuble würde sich anmaßen, den Franzosen gute Ratschläge zu erteilen? Wie würden sie dann reagieren, und allen voran Nicolas Sarkozy?

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.10940
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 10.04.2010/ib
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.