Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Manche Fragen kann man nur in Frankreich stellen

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Verklemmt oder lieber mit Sex-Appaeal. Wer wird der neue französische Präsident?

Pascale Hugues

Die erste Runde der Wahlen in Frankreich rückt näher. Am Sonntag in einer Woche ist es so weit. Wie viele Franzosen weiß ich nicht, wen ich wählen soll. Noch mal eine Runde für Sarko? Kommt nicht in Frage! Der Sozialist François Hollande? Eine nicht gerade begeisternde Aussicht. Die Grünen wählen, das wäre jedoch ein Schlag ins Wasser. Und Jean-Luc Mélanchon, der Kandidat der Linksfront? Ganz falsch, denn das würde bedeuten, das linke Lager zu demontieren und vielleicht sogar das Terrain für Rechtsaußen zu bereiten. Es gilt das Szenario von 2002 um jeden Preis zu vermeiden: Damals machte die zersplitterte Linke der Front National den Weg frei, um Jacques Chirac für seine zweite Amtsperiode aus dem Rennen zu werfen.

Besonders schwierig wird es, wenn man wie ich lange Zeit im Ausland gelebt hat. Man verliert die Beziehung zu seinem Heimatland, seinen Alltagsproblemen, sozialen Herausforderungen und politischen Strömungen. Man wählt ins Blaue hinein, aus Gewohnheit, unter dem Einfluss seiner Familie, meist ohne besondere Motivation. Das ist unverantwortlich! Das darf nicht passieren! Deshalb habe ich beschlossen, mich gründlich zu informieren. Dafür höre ich nun von morgens bis abends französisches Radio. Dieses Mal werde ich nichts dem Zufall überlassen. Ich will mich mit den politischen Programmen der einzelnen Parteien auseinandersetzen.

Seit Wochen sperre ich nun die Ohren auf. Vor einigen Tagen stellte der Moderator einer vielbeachteten Mittagssendung auf France-Inter seinen vier Gästen das Ergebnis einer Umfrage vor. Die Frage lautete, mit welcher Persönlichkeit aus der Politik würden sie gern die Nacht verbringen? Ja, eine solche Frage kann man in Frankreich tatsächlich stellen, auch seriösen Gästen einer Radiosendung, darunter hochrangige Intellektuelle und bekannte Kulturschaffende. Ergebnis der Befragung: Dominique de Villepin, der Mann mit der grau melierten Löwenmähne, lag ganz vorn, obwohl er ein bisschen verklemmt sei, wie die Juroren befanden. Manche schwärmten auch für Sarkozy. Glucksendes Lachen im Studio. Sogar Marine Le Pen kam gut weg. Das ging dann aber doch zu weit. "Aaah, nein, nein, das ist abscheulich! Die Leute sind pervers!", befanden die Gäste schließlich einhellig.

Es ist schwer, sich die gleiche Szene in Deutschland vorzustellen, etwa mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, dem Schriftsteller Günter Grass und den Schauspielern Christiane Paul und Bruno Ganz, die darüber befinden sollen, wen sie erotisch anziehender finden, Renate Künast oder Peer Steinbrück? Solche Situationen kann man in Deutschland höchstens am Stammtisch erleben, und dann auch nur zu fortgeschrittener Stunde, aber niemals zur besten Sendezeit in einer deutschen Radiokultursendung.

Fest steht: Sex-Appeal ist kein schlechtes Kriterium. Einige Wähler, das ist bekannt, achten - ohne es wahrzunehmen - auf die Farbe der Krawatte oder die Stimmlage eines Politikers. Gott allein weiß, welche unbewussten Strömungen uns am Ende dazu treiben, das Kreuz an der einen oder anderen Stelle auf dem Wahlzettel zu setzen. Was soll ich also tun? Sarko oder Hollande? Ich befürchte, das ist ein Dilemma, für das es keine Lösung gibt.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

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Quelle:
SZ vom 14./15.04.2012
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