Mein Deutschland:Madeleine mit Orangengeschmack

Mein Deutschland: Vor Weihnachten läuft traditionell das Backen von Plätzchen und Christstollen auf Hochtouren.

Vor Weihnachten läuft traditionell das Backen von Plätzchen und Christstollen auf Hochtouren.

(Foto: AP)

Ich lebe in einem Adventsplätzchenland.

Agnieszka Kowaluk

Ob Markt- oder Planwirtschaft - der Orangenduft ist derselbe. Vor Weihnachten brachte mein Vater in einer grauen Papiertüte von irgendwoher eroberte Apfelsinen, die er mit triumphierender Miene aus seinem Aktenkoffer zog. Essen durfte man sie nicht. Bis Heiligabend lagen sie auf dem Obstteller und verströmten eine Atmosphäre von Erwartung und etwas Besonderem. Zum Gleich-Essen gab es kubanische Orangen. Kuba war Polens Bruderstaat, der uns verfrorene europäische Ostblöckler zu Weihnachten mit wenig glänzenden, undefiniert grünen und doch unvergesslich süßen Orangen beglückte. Die endlich feierlich geschälte und an alle Familienmitglieder verteilte "westliche" Apfelsine bleibt meine Madeleine. Ihr Geruch versetzt mich noch heute in Glückseligkeit. Ob die Madeleine meiner Tochter ein Gebäck sein wird?

Meine Eltern begannen die Vorbereitungen auf Weihnachten - alleine an Heiligabend zwölf verschiedene Speisen, nicht mehr und nicht weniger - schon Wochen vorher. Sie kochten, backten, stanzten aus, raspelten, rührten, schnipselten und räucherten. Vieles habe ich gelernt bei meinen neugierigen Besuchen in der Küche, doch Weihnachtsplätzchen kann ich bis heute nicht backen. Butterteig zu kneten gleicht für mich einer Strafe, das Ausrollen eines gekühlten Teigs übersteigt meine intellektuellen Möglichkeiten, und meine Nächsten verdächtige ich, mit versteckter Kamera hämisch meine Gefühlsausbrüche beim Platzieren der Teigklümpchen auf dem Backblech aufzuzeichnen. Aber ich lebe in einem Adventsplätzchenland. Den Scherz, den ich mir heuer gegenüber meiner Tochter erlaubte ("Wir backen dieses Jahr keine Plätzchen, okay?") werde ich, konfrontiert mit ihrem entsetzten Gesichtsausdruck, wohl nie mehr machen. Und das vorweihnachtliche Geplauder mit meiner Freundin - einer Karrierefrau - bei dem wir müde unsere Köpfe in die Hand stützten und uns darüber beklagten, wie stressig die Adventszeit sei, weil alle so hochgeschraubte Erwartungen hätten, wir hingegen beruflich so viel zu tun, endete damit, dass sie mir ein Plätzchenrezept aufschrieb. An manchen Tagen im Advent fühle ich mich allein.

Agnieszka Kowaluk ist Journalistin und Literaturübersetzerin. Sie berichtet unter anderem für die polnische Zeitung Gazeta Wyborcza.

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