Mein Deutschland:"Letzte Straßenbahn" - zum Ankommen

S-Bahn, München, zweite Stammstrecke

Eine S-Bahn fährt in München (Oberbayern) in die Haltestelle Hackerbrücke ein.

(Foto: dpa)

Ein deutscher Lehrer stimmt im Unterricht zur besseren Erklärung ein russisches Lied an.

Eine Kolumne von Maia Belenkaya

Ich wollte nicht nach Deutschland. Fremdes Land, fremde Menschen, fremde Mentalität. Alles, was vertraut war und geliebt wurde, blieb in Russland zurück.

Ich klammerte mich buchstäblich an Türpfosten, von denen man mich loszureißen versuchte. Und das erste halbe Jahr habe ich geweint. Und dann, im Deutschkurs des Goethe-Instituts, passierte das erste Wunder. Unser Lehrer, Siegfried, sehr reserviert, über alles die Ordnung liebend - alles in allem ein typischer Deutscher, so wie er dem damaligen sowjetischen Klischee entsprach - versuchte verzweifelt, uns das Wort "letzter" zu erklären. Mit traurigem Blick seufzte er schließlich, setzte sich auf den Tisch (was er sich bis dahin nie erlaubt hätte) und fing an zu singen - auf Russisch, schön und sauber, auch im musikalischen Sinne: "Letzte Straßenbahn, öffne mir die Türen." Ein wunderschönes Lied des berühmten russischen Dichters Bulat Okudschawa. Und wir verstanden den Sinn dieses einen Wortes. Und ein wenig unseren großartigen Siegfried.

Das zweite Wunder passierte in der U-Bahn. Eine ganz liebe deutsche Familie stand vor uns an der Tür. Papa, Mama und zwei Jungs. Einer ein bisschen älter, der andere noch ganz klein. Und der Kleine gab beim Rausgehen die eine Hand seiner Mama und die andere aus Versehen ganz automatisch meinem Mann. Dieser fühlte das zutrauliche Händchen in seiner Hand, schmolz geradezu dahin und ging mit dem kleinen Jungen und seiner Mutter zur Rolltreppe. Der Vater und ich liefen hinterher, wechselten Blicke und lächelten einander an. Und nur sein Bruder, den rührenden Moment und die symbolische Völkervereinigung nicht schätzend, konnte sich vor Lachen nicht mehr einkriegen, rannte immer wieder vor und versuchte seinem Bruder anzudeuten, dass er sich mal umdrehen muss: Da, schau, der eigentliche Vater ist hinter dir! Aber dieser zwitscherte seiner Mama und dem neu gefundenem Vater etwas zu - etwas für uns damals noch nicht Verständliches. Die Idylle nahm ihr Ende, als wir aus der U-Bahn herauskamen. Der Kleine bemerkte die Bemühungen seines Bruders, drehte sich um, sah seinen Vater und rannte zu ihm. Aber trotzdem - beim Gehen lächelten sie uns an und winkten noch ganz lange. Und das war für uns sehr wichtig. Es bedeutete: Das Leben geht weiter!

Maia Belenkaya arbeitet als freie Journalistin unter anderem für die russische Zeitung Nowaja Gaseta .

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