Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Immer noch das alte Feindbild im Kopf

Die Großmacht existiert nur noch in Anführungsstrichen.

Andrey Kobyakov

Die Macht in meiner Heimat findet schon längst "Gefallen" am Westen. Fast kein Tag vergeht, ohne dass die Hofmedien sarkastische oder belehrende Passagen über die westliche Welt veröffentlichen. Und das funktioniert: Nicht wenige Russen haben in ihrem Bewusstsein immer noch das alte Feindbild, das von machtnahen Ideologen gepflegt wird. Auch Deutschland gehört in dieses Feindbild, wenn es im Ranking auch nicht ganz oben steht.

Wer ist schuld an der Weltkrise? Natürlich die abzockende Finanzpolitik des Westens. Wer hatte die Schweinegrippe verbreitet? Und davor die Vogelgrippe? Woher kamen die Pornographie, die sexuelle Revolution und Aids nach Russland? Wer praktiziert Doppelstandards? Wer mischt sich immer in die Innenpolitik anderer Länder ein? Wer treibt einen Keil zwischen ehemalige sowjetische Republiken? Alles Böse komme vom Westen - solche ideologischen Spritzen bekommen die Russen bis heute regelmäßig verabreicht. Die Präsentation dieser Sentenzen hat sich längst geändert. Sie ist spitzfindig, öfters indirekt geworden. Aber das Wesen bleibt wie vor Jahrhunderten: Die Großmacht ist in Gefahr, doch die neuen Zaren sind immer bereit, ihre Untertanen zu schützen.

Ehec wurde zu einem weiteren Anlass, den Westen zurechtzuweisen. Ausgerechnet vor dem EU-Russland-Gipfel Anfang Juni reagierte Moskau hart und eindeutig: Alle Gemüse-Einfuhren aus Europa wurden gestoppt. Später verbot Moskau den Import von Fleisch und Milch von einigen deutschen Produzenten. War das nun eine Art Rache? Oder nur ein strategischer Schritt zum Schutz der Interessen einheimischer Hersteller? Auch wenn all das stimmt, so steht diese Politik vor allem wieder einmal für die russische Macho-Politik. Und die ist nichts anderes als die unbewusste Äußerung eines tiefen Minderwertigkeitskomplexes.

An diesem geschichtlich bedingten Komplex leiden mehr oder weniger alle Russen - die Ex-Bürger der zusammengebrochenen sowjetischen Supermacht. Das zeigt sich auf allen Niveaus: bei einem sibirischen Neureichen, der bei Auslandsreisen demonstrativ mit Geld um sich wirft, oder bei einem Spitzenpolitiker, der immer wieder Streitigkeiten mit dem Westen sucht. Die Russen begehren leidenschaftlich Respekt vom Westen. Und wenn das nicht klappt, greift man zu kindlichen Gegenaktionen.

Es wäre zum Beispiel falsch zu denken, dass die Russen die demokratischen Werte nicht akzeptieren. Sie leiden aber an dem Verständnis, dass die Demokratie in ihrem Land irgendwie nicht funktioniert. Die dadurch entstehende Scham und Bitternis werden mit Aggressivität oder Snobismus maskiert. Es wäre falsch, russische Spitzenpolitiker für naive und ehrgeizige Fürstchen zu halten. Sie verstehen schon, dass ihre "Großmacht" grundsätzlich nur in Anführungsstrichen existiert: Die Macht ist groß, solange die Ölpreise hoch sind. Die oben genannten Masken verbergen ihre echten Gefühle. Doch ist es wie mit dem amerikanischen Gigantismus oder mit der German Angst. Alle Komplexe sind heilbar. Sie müssen vom Patienten nur erkannt und akzeptiert werden.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

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SZ vom 02./03.07.2011/ib
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