Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Im Land der Deutschen leben

Mit ein wenig Chemie zu einem besseren Miteinander.

Andrey Kobyakov

Über Russlands Vergangenheit liegt ein dicker Mantel des Schweigens, meine Landsleute reden wenig über Stalins Terror und die Repressionen der kommunistischen Regierungen. Auch deshalb bleiben für die meisten Russen die Begriffe "Demokratie" und "Toleranz" nur Worte ohne tiefere Bedeutung. Alle wichtigen gesellschaftlichen Fragen - einschließlich solche nationaler und ethnischer Natur - werden in Russland ganz oben gelöst, die Menschen sind nicht beteiligt. Anders in Deutschland: Hier wird intensiv und öffentlich über die Vergangenheit diskutiert. Das empfinde ich als positiv und befreiend. Und dieses Engagement scheint eine Folge der konsequenten und historisch bedingten Kultivierung von Demokratie und Toleranz zu sein.

Das zeigt sich auch in der aktuellen Diskussion über Integration und Leitkultur.Mit der Wortwahl aber habe ich Probleme. Auf den ersten Blick mag die Verbindung "deutsche Leitkultur" für Deutsche harmlos wirken. Für Ausländer aber ist die Silbe "Leit-" abstoßend. Auch Migranten, die sich nach Kräften anstrengen, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen, fühlen ein gewisses Unbehagen. Leiten klingt im Zusammenhang mit Kultur nach Wertigkeit und Wichtigkeit, so als stände eine Kultur über der anderen auf einer zivilisatorischen Skala. Überhaupt: Was meint eigentlich das Wort "Kultur"? Kultur kommt in vielen Begriffspaaren vor: Hochkultur, Fremdkultur, Subkultur... Was ist also Kultur in Leitkultur? Und muss deutsche Leitkultur der Gegensatz von multikultureller Gesellschaft sein?

Die Vokabel "deutsche Leitkultur" behindert den Integrationsprozess. Migranten erhalten dadurch nicht eine Anweisung, wie sie sich integrieren könnten, sondern bleiben eher verstört und abgewiesen zurück. Denn es ist doch klar, dass die deutsche Kulturbasis und das europäische Wertesystem in Deutschland gelten. Es bestreitet doch ernsthaft kein Migrant, dass er oder sie in einem deutschen Land, im Land der Deutschen lebt. Es ist schwer vorzustellen, dass die Migranten - mit Ausnahme einer ganz kleinen Gruppe von Verweigerern - die deutsche Sprache bewusst und gezielt nicht lernen.

Vielleicht kann ein wenig Chemie uns helfen, damit es in Deutschland zu einem besseren Miteinander kommt. Alle wissen, dass wenn man eine Prise Salz ins Wasser gibt, keiner der beiden Bestandteile verschwindet. Salz bleibt Salz - nur aufgelöst, und Wasser bleibt Wasser - nur gesalzen. Dieser Prozess ist, im Gegensatz zu einer Suspension, unumkehrbar: Die gesalzene Suppe kann nicht mehr ungesalzen gemacht werden. Andererseits: Wem schmeckt schon Suppe ohne eine Prise Salz?

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

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Quelle:
SZ vom 30./31./10.1./11.2010/ib
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