Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Im Aufzug mit Tschingis

Lesezeit: 1 min

Mit Münchens Oberbürgermeister gemeinsam im Lift zur Buchvorstellung.

Eine Kolumne von Maia Belenkaya

Dass der Aufzug im Münchner Literaturhaus sehr verträumt ist, wusste ich vor ein paar Jahren noch nicht. So kam ich zu spät zu der Veranstaltung mit dem hervorragenden (nun leider schon verstorbenen) Schriftsteller Tschingis Aitmatow. Mich rettete ein sympathischer, mir bekannt vorkommender Mann mit Schnurrbart, der mir versprach, den Aufzug in zwei Sekunden wieder zu richten.

"Wow, das ist Deutschland!", dachte ich. "Der Handwerker kommt ohne Anruf." Und tatsächlich - nach zwei Sekunden fuhr ich mit meinem Retter schon nach oben. Aber leider nicht lange. Zwischen dem ersten und zweiten Stock blieb der Aufzug stecken. Auf meine schweigsame Frage (auf Deutsch konnte ich damals fast nichts sagen) lächelte der Handwerker und streckte mir die Hand entgegen: "Christian Ude".

Im Russischen gibt es eine Redewendung: Die Gabe des Sprechens verlieren. Und genau das passierte mir. Im Lift mit Münchens Oberbürgermeister stecken zu bleiben - diese Situation wäre in Russland unvorstellbar. Ein gewöhnlicher Mensch wird sich niemals im selben Aufzug mit dem Bürgermeister wiederfinden. Sie haben ja andere Aufzüge. Und wenn sie doch den gemeinschaftlichen Lift nutzen - die Wache schläft nicht. Schließlich habe ich nur noch "ich bin russische Journalistin" rausbekommen, während ich ihm zitternd die Hand entgegenstreckte. Als wir es nach zehn Minuten Wartezeit bis zum zweiten Stock geschafft hatten, öffnete sich die Tür - und der große Tschingis stieg hinzu, für mich einer der berühmtesten sowjetischen Schriftsteller, Autor von gleichnishaften Romanen, die ich sehr liebe. Es geht um Erinnerung, um Hoffnung, um Liebe, darum, dass die Welt für alle eins ist. Metaphorisch gesprochen - wir alle fahren in einem Aufzug. Und bleiben gemeinsam stecken.

Ude stellte Aitmatows Buch "Der Schneeleopard" vor. Und ich saß in dem überfüllten Saal, dachte an das gerade Vorgefallene und war stolz. Auf Aitmatow. Darauf, dass ihn die deutschen Leser so lieben. Und auf Ude. Der, wie sich herausstellte, die russische Literatur kennt und liebt. Und auf die Menschen im Saal. Die sich für eine fremde Kultur so interessieren. Nur für mich habe ich mich geschämt. Aber ich wollte mich bessern. Also lerne ich jetzt erst einmal Deutsch.

Maia Belenkaya ist freie Journalistin. Sie lebt in München.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2038466
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05./06.07.2014
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.