Mein Deutschland:Fußball ist überall

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Der offizielle Ball "Brazuca" der Fußball-WM in Brasilien 2014. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Die Fußball-Weltmeisterschaft ist überall.

Eine Kolumne von Pascale Hugues

Darf man sich eigentlich auch nicht für Fußball begeistern? Meine Vorstellung von der Idylle eines leeren Apartments in einer ruhigen Straße, von friedvollen Stunden auf dem Balkon bei einem Glas Rosé in Zeiten der WM - sie ist schon bei den ersten Spielen zerplatzt. Seit Montag wird die Wohnung von einer Horde Jugendlicher heimgesucht, auf dem Gehsteig gegenüber hat ein Lokal eine gigantische TV-Leinwand aufgebaut und das Gegröle der gut 5o Fans lässt die Mauern und mich erzittern. Gerade noch konnte ich mich gegen Fahnen - deutsche und französische - in meinen Blumentöpfen und auf dem Autodach wehren.

Es ist unmöglich, der WM zu entkommen. Sie ist überall. Als ob die Welt stillstehen würde. Um die jüngsten Ereignisse in der Irak- oder Ukraine-Krise online zu erfahren, muss man sich erst einen Weg durch den Dschungel von Berichten über körperliche und seelische Zustände der Spieler bahnen. Sogar mein Buchladen hat sein Schaufenster mit Büchern dekoriert, deren Titel voller Enthusiasmus verkünden: Tor! Volltreffer! Stürmer gesucht! Ich musste mich beherrschen, um nicht die Autobiografie von Philipp Lahm zu erwerben.

Es ist noch nicht lange her, da widerstanden zwei Gruppen dem Fußball: die Intellektuellen und die Frauen. Fußball war ein Sport für Männer, es roch nach Schweiß und Testosteron. Aber heute? Alle, die sich in dieser Republik zu den Feingeistern zählen, ergehen sich in ausführlichen Leitartikeln in spitzfindigen soziologisch-ethnologisch-strategischen Betrachtungen. Die Frauen schreien inzwischen am lautesten. Wehe denen, die sich ohne Bier und ohne Nationalfarben auf der Wange in die Öffentlichkeit wagen. Vorbei die Zeit, als wir, ohne lächerliche Außenseiter zu sein, klassisches Ballett und den Frieden auf unserem Balkon genießen durften.

Pascale Hugues ist Deutschland-Korrespondentin des französischen Nachrichten-Magazins Le Point.

© SZ vom 21./22.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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