Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Friedliches Atom in jedes Haus!

Russland lehnt den Ausstieg aus der Kernkraft ab.

Andrey Kobyakov

Eine "Apokalypse" nennt EU-Kommissar Günther Oettinger die dramatische Situation im japanischen Atomkraftwerk Fukushima. Eine scharfe Aussage. Die katastrophalen Konsequenzen dessen, was jetzt wirklich auf der größten japanischen Insel passiert, begreift in ihrem vollen Ausmaß aber wohl keiner von uns. Alle reden über die Tragödie in Japan, die Katastrophe in Japan, über die Zukunft von Japan. Das ist aber grundsätzlich falsch. Denn das Drama passiert nicht in Japan, sondern bei uns allen - auf der ganzen Welt. Die Katastrophe entwickelt sich auch hier; und wenn die Menschheit nichts ändern will oder kann, erwartet uns eine ähnliche Zukunft wie die Japaner.

"Solange der Donner nicht rollt, bekreuzigt sich der Bauer nicht." Immer häufiger erinnere ich mich an dieses alte russische Sprichwort: Leider trifft man erst dann Vorkehrungen, wenn, wie der Deutsche sagt, das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Dann aber vergeht wieder eine Zeit, und die irrationalsten Lebewesen der Welt, die Menschen, kehren auf ihre gewohnten Bahnen zurück. Welche Lehre zogen wir, die großen Naturbezwinger, aus der schrecklichen Tragödie von Tschernobyl? Statt mit allen Kräften die erneuerbaren Energien weiterzuentwickeln, verließen wir uns auf Öl und Gas. Und die Zahl von Atomkraftwerken nahm zu - gerade in Westeuropa, in den USA, Japan und Russland.

"Friedliches Atom - in jedes Haus!" Unter diesem Motto hatte die Sowjetunion einst die Atomenergie propagiert. Die UdSSR war weltweiter Spitzenreiter bei der "Unterwerfung des Atoms". Deshalb erfuhren die meisten Russen die wahren Ausmaße des Tschernobyl-GAUs erst nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Reichs. Der Kreml hatte das Massenbewusstsein meisterlich manipuliert. Diese verspäteten Erkenntnisse wurden zwar wahrgenommen, aber - weil es damals auch schon eine Zeit her war - nicht mehr so tief empfunden. Somit stellt Tschernobyl eine weitere Seite der sowjetischen Vergangenheit dar, die bis jetzt noch nicht aufgearbeitet wurde.

Während Deutschland nach dem Unfall in Japan eine Auszeit nimmt, AKWs stilllegt und sich weitere Schritte zum Ausstieg aus der Atomkraft überlegt, diskutiert Russland laut über die Weiterentwicklung dieser "zukunftsträchtigen Energiebranche". Dabei gehört Russland mit seinem 16-prozentigen Anteil von Kernenergie an der gesamten Bruttostromerzeugung gar nicht zu den Ländern, für welche die Atomkraft lebensnotwendig ist. Doch gerade in dieser Zeit schließen Moskau und die Regierung in Minsk demonstrativ ein Abkommen zum Bau eines neuen Atomkraftwerks in Weißrussland - in dem Land, das nach dem Tschernobyl-Unfall am stärksten geschädigt wurde. Und auch hier hört man noch das Echo der sowjetischen Rhetorik: Russland baut die besten und zuverlässigsten AKWs.

Den langfristigen Ausstieg aus der Kernkraft lehnt nicht nur Russland ab. Das heißt, die atomaren Gefahrenquellen werden auch künftig relativ nahe an Deutschland liegen. Der Kampf für die Sicherheit der Menschheit bleibt also aktuell. Was gilt es zu überwinden? Die Atomlobby? Profitgier? Fehlende Willensstärke? Trotziges Unverständnis? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen macht keinen Sinn, solange man denkt, dass Tschernobyl und Fukushima irgendwo anders sind, weit weg von uns.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

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SZ vom 19./20.03.2011/ib
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