Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen

Lesezeit: 2 min

Den Deutschen fehlt allzu oft das Interesse, sich wirklich im Ausland zu integrieren.

Alessandro Melazzini

Deutschland, ein Auswanderungsland? Das könnte man meinen, wenn man die Schweiz besucht. Allein Hunderte Deutsche verlassen jeden Monat die Bundesrepublik, um nach Zürich zu ziehen. Dort arbeiten sie als Kellner, Bankangestellte und Ärzte. "Hier ist alles so pünktlich, organisiert und gepflegt, dazu chic und international", sagt Carl. Und Hannes, ebenfalls in Zürich ansässig, ärgert sich über das "Gestümpere" in der deutschen Politik, deshalb habe er Deutschland den Rücken gekehrt.

Ich war überrascht, solche Äußerungen hatte ich bisher nur von meinen Landsleuten aus Neapel und Palermo gehört. Tatsächlich verlassen die jungen gebildeten Italiener das Bel Paese aus Gründen, die denen ihrer deutschen Altersgenossen ähneln: Sie sind auf der Suche nach besseren Aussichten, empfinden aber auch Verdruss gegenüber dem Stillstand in ihrer Heimat. Mit einem Unterschied: Während meine Landsleute in der deutschsprachigen Schweiz mit dem Bewusstsein ankommen, dass Zürich eine ganz andere Welt als Mailand oder Rom ist, glauben die Deutschen, dass die Schweizer die netten Kumpels von nebenan sind, die bloß einen merkwürdigen deutschen Dialekt sprechen. Nicht überraschend, dass Reibungen entstehen, über die sich die Zugewanderten wundern. Johanna etwa, die in der Tram "schlecht behandelt" wurde, nur weil sie hochdeutsch sprach.

Als gebürtiger Italiener habe ich die Beschwerden zunächst abgetan - dann aber an das Tessin gedacht, wo zurzeit Plakate gegen "die italienischen Ratten" zu sehen sind. "Ausnahmen", sagt Daniele, ein Eidgenosse mit italienischen Eltern, "denn wir Schweizer sind höflich und freundlich." Die wachsende Zahl von Einwanderern aus der Bundesrepublik aber erzeuge Angst oder Unverständnis. Und den Deutschen, kritisiert Daniele, fehle allzu oft das Interesse, sich wirklich zu integrieren.

Verkehrte Welt: Die Deutschen haben Integrationsschwierigkeiten? "Wir reden nicht über Gastarbeitergeschichten aus den fünfziger Jahren", setzt Daniele fort, "tatsächlich wünschen wir Schweizer uns von den neuen deutschen Einwanderern ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen." Die großen Brüder aus dem nördlichsten Kanton sollten versuchen, die Eidgenossen besser zu verstehen, ihre Wurzeln und Mentalität tiefer zu begreifen, als sie es bislang versuchen. Wie denn das? "Indem sie unsere Sprache ernst nehmen", sagt Daniele tatsächlich. Einmal mehr dreht sich Integration um die Sprache, egal ob Italiener in Deutschland oder Deutscher in der Schweiz. Die Sorge der Einheimischen um ihre Sprache sollte man als Einwanderer also durchaus ernst nehmen. Was aber zumindest die Schweizer trösten könnte, ist die Beobachtung, die schon Gottfried Keller 1856 machte: Dass "es schrecklich ist, wie es in Zürich von Gelehrten und Literaten wimmelt und man hört fast mehr hochdeutsch, französisch und italienisch sprechen, als unser altes Schweizerdeutsch".

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Alessandro Melazzini arbeitet als Kulturkorrespondent für die italienische Tageszeitung Il Sole 24 Ore.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1016342
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09./10.10.2010
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.