Mein Deutschland:Die "Schwarze-August-Liste"

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Solange nur Bäume, Büsche und Tiere irgendwo in Sibirien sterben, läutet niemand die Alarmglocke.

Andrey Kobyakov

"Schwarzer August" nennt man in Russland seit fast 20 Jahren diesen Monat. Im August 1991 fand der Putschversuch statt, als hohe Beamte, der KGB und das Innenministerium Gorbatschow absetzen wollten. In der Folge passierten tragische Ereignisse fast jährlich in diesem Monat. Die bekanntesten davon sind der Zusammenbruch einer Finanzpyramide 1994 mit 15 Millionen betrogenen Anlegern, die Rubelkrise 1998, der Beginn des zweiten Tschetschenien-Kriegs 1999, der Untergang des Atom-U-Boots "Kursk" 2000 und die Havarie im größten russischen Wasserkraftwerk 2009. 2010 leidet Russland unter verheerenden Waldbränden.

Verheerende Waldbrände wüten in Russland. Feuerwehrleute bekämpfen einen Waldbrand in der Nähe eines Atomkraftwerks bei Nowoworonesch, rund 650 Kilometer südlich von Moskau. Im Kampf gegen die verheerenden Wald- und Torfbrände in Russland hat sich die Lage in einigen Gebieten dramatisch zugespitzt. Landesweit hielten tausende Brände in insgesamt 17 Regionen die Rettungskräfte weiter auf Trab. Auch Moskau ist betroffen - über die Stadt ziehen die Rauchschwaden der Brände und verdunkeln den Himmel. (Foto: dpa)

"Solange der Donner nicht rollt, bekreuzigt sich der Bauer nicht". Dieses russische Sprichwort scheint am besten das Verhalten der zweiköpfigen Staatsspitze zu beschreiben. Krisenmanagement und Präventivstrategie, gelenkte Demokratie und Machtvertikale - diese Begriffe sind nichts im Vergleich zu den byzantinisch-patriarchalischen Denkweisen des russischen Beamtentums. Der neue Wohlstand hat nichts an der sowjetischen Mentalität vieler Russen geändert. Wie sonst könnte man erklären, dass es in tausenden Dörfern nicht einmal primitive Löschvorrichtungen gibt? Wie sonst kann es sein, dass es im ganzen riesengroßen Land nur wenige einsatzbereite Löschflugzeuge und -hubschrauber gab? Und wie konnten erwachsene Menschen bei dieser Hitze Lagerfeuer in den Wäldern entzünden?

"Ein anthropogener Faktor" habe die Waldbrände im mit 1,3 Milliarden Hektar waldreichsten Land der Welt verursacht, so das Urteil russischer Experten. Darunter versteht man das rücksichtslose Betragen von Bürgern und fahrlässiges Verhalten von niedrigen Beamten: Jemand muss ja bestraft werden.

Das Problem flammte jedoch schon lange auf, bevor der erste Alarmbericht auf Putins Schreibtisch landete. Man findet in großen russischen Medien kein Wort darüber, dass vor vier Jahren ein neues Forstgesetz in Kraft getreten ist, infolge dessen Tausende Waldhüter entlassen und die Flüge der Brandschützer gestrichen wurden. Bei illegalen oder manipulierten Wald-Privatisierungen von Waldstücken drückten die Behörden gehorsam ein Auge zu. Auch Informationen über vorherige ebenso verheerende Waldbrände sucht man in den Medien vergeblich. Im August 2008 brannten 23 Millionen Hektar Wald und Wiesen, also viel mehr als in diesem Jahr! Im August 2009 standen 14 Millionen Hektar in Flammen.

Was menschliche Opfer betrifft, sind die Brände mit der Flut in Pakistan nicht zu vergleichen. Aber was macht sie gerade in diesem Jahr für Medien in aller Welt so interessant? Die Antwort lautet: Moskau und Atom. Solange "nur" Bäume, Büsche und Tiere irgendwo in Sibirien sterben, läutet niemand die Alarmglocke. Wenn aber der Rote Platz in Rauch gehüllt ist und sich das Feuer einer Atomanlage nähert, kommen die Ereignisse sofort auf die "Schwarze-August-Liste".

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

© SZ vom 20.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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