Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Die Masse der Unzufriedenen

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Steinhart erscheinende Regime platzen wie Luftballons.

Andrey Kobyakov

Seien wir ehrlich: Westeuropäer halten Osteuropäer für etwas zurückgeblieben, auch wegen ihres Verständnisses von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Russen, Ukrainer oder Weißrussen spüren immer diesen schulmeisterlichen Ton. Sie haben sich damit abgefunden, denn schließlich haben die Wessis ja recht: Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen Osteuropas lassen viel zu wünschen übrig. Schade ist, dass die Ossis die Belehrungen für lästig und manchmal naiv halten und sie entweder mit gekünsteltem Verständnis oder einfach nur mit einem Lächeln quittieren. In ihrem Trotz überhören sie leider häufig wertvolle Botschaften.

Das zeigt sich auch deutlich bei den Einschätzungen der überraschenden Ereignisse in der arabischen Welt. Mit Gleichgültigkeit oder auch Nachsicht lauscht man im Osten Europas den Ausführungen westeuropäischer Experten und Politiker zum "arabischen Vorbild für Osteuropa" und setzt lieber die grinsende Maske mit der Botschaft auf: "Die Russen sind keine Araber." Auf den ersten Blick lassen die Fakten tatsächlich die Vergleiche aus dem Westen hinken. Tunesier und Ägypter sind im Schnitt nur knapp 30 Jahre, der durchschnittliche Russe ist zehn Jahre älter. Schon deshalb bringt er keinen Flashmob mehr zustande. In Tunesien leben weniger Menschen als inzwischen in Moskau, und von der Fläche her gesehen sind die zwei aufständischen Staaten Nordafrikas nur halb so groß wie der sibirische Verwaltungsbezirk Krasnojarskij Kraj.

Kremlnahe Politologen tun überdies alles, um ihrem Auftrag gerecht zu werden, den Pseudopatriotismus zu pflegen und das alte Feindbild am Leben zu halten. Laut ihren "überraschenden Analysen" sind die nordafrikanischen Unruhen nichts anderes als ein Exportartikel des Weißen Hauses. Washington führe eine Geheimoperation durch, deren wahres Ziel es sei, Europa und den Euro zu schwächen. Solche Verschwörungstheorien fallen leider auf fruchtbaren Boden. Nun ist es kein Geheimnis, dass westliche Staaten das Regime in Ägypten

30 Jahre lang unterstützten, obwohl Mubarak in einer Reihe mit einigen "lupenreinen osteuropäischen Demokraten" stehen könnte. Realpolitik in dieser Form versteht man in Osteuropa aber kaum.

Dennoch sollten die Zaren Osteuropas nicht ganz so zuversichtlich sein, dass die arabische Welle nicht doch zu ihnen schwappt. Die wichtigste Schlussfolgerung aus der aktuellen Entwicklung in Nordafrika lautet: Auch die kühnsten Phantasien können gleichsam über Nacht zur Realität werden, auch die als superstabil und steinhart erscheinenden Regime platzen wie Luftballons, wenn die Masse der Unzufriedenen eine kritische Größe erreicht hat. Und je härter und skrupelloser die autoritären Machthaber sich zeigen, desto schneller zieht ihre Götterdämmerung herauf. Unabhängig davon, in welcher Ecke des Planeten demokratische und menschliche Werte missachtet werden.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

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Quelle:
SZ vom 12./13.02.2011
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