Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Die Freiheit in zwei Absätzen

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Vor 25 Jahren begann in Warschau der Umbruch und alle kamen zur ersten freien Wahl.

Eine Kolumne von Agnieszka Kowaluk

In einigen Tagen wird der polnische Staatspräsident zusammen mit dem deutschen Staatsoberhaupt und den Amtskollegen aus den Visegrád-Staaten in Warschau das 25. Jubiläum der Transformation in Mittel- und Osteuropa begehen. Auch in Leipzig, Budapest, Bratislava und Prag wird gemeinsam gefeiert. In Warschau begann der Umbruch im Frühsommer 1989, als am 4. Juni vor 25 Jahren alle Menschen geschlossen an den ersten freien Wahlen nach 1945 teilnahmen - anders vergangenen Sonntag, wo in Polen die Beteiligung an der Europawahl eine der niedrigsten in ganz Europa war. 1989 endete die Abstimmung mit dem Sieg der Solidarność - der Sturz des sozialistischen Systems begann. Als Teil der Feierlichkeiten nächste Woche werden die Staatsoberhäupter mit 1989 geborenen Menschen aus Deutschland, Tschechien, Slowakei und Ungarn über das Thema Freiheit diskutieren.

Der größte polnische Dichter, Adam Mickiewicz, sagte über Heimat, man lerne sie erst dann zu schätzen, wenn man sie verloren habe. Ob es sich mit der Freiheit ähnlich verhält und die Freiheit der 1989 Geborenen eine andere ist als derjenigen, die auch deren Gegenteil kennen? Was mich betrifft, stürzte ich mich 1990 - kaum war die Berliner Mauer gestürzt - darein, die Vorzüge der samtenen Revolution zu genießen und fuhr mit einem Stipendium nach Deutschland, das damals noch Westdeutschland hieß. Die lange Fahrt mit dem Nachtzug verbrachten meine Abteilgenossinnen und ich damit, uns Geschichten über Grenzüberschreitungen zu erzählen. Die letzte Story vor dem Einschlafen schilderte eine polnische Emigrantin, die 1968 mit demselben Zug nach Paris fuhr, um für immer dort zu bleiben. An der deutsch-polnischen Grenze brach der Zöllner die Absätze ihrer italienischen Stöckelschuhe ab, um zu sehen, ob sie etwas schmuggelte. Wer vor 1989 in Polen geboren wurde, weiß, wie viel einem polnischen Mädchen damals solche Schuhe bedeuteten.

Als ich beim Aufwachen vom Anblick des Kölner Doms überwältigt wurde, war die Geschichte mit den Schuhen vergessen. Aber am Sonntag, nach 25 Jahren, erzählte ich sie meiner 14-jährigen Tochter. Bei den nächsten Wahlen gehen wir zusammen Europa wählen. Nie wieder ruinierte Stöckelschuhe!

Agnieszka Kowaluk ist Journalistin, Autorin und Literaturübersetzerin. Sie lebt in München.

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SZ vom 31.05./01.06.2014
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