Mein Deutschland:Der lange Schwabinger Schatten

Gurlitt-Sammlung Bernhard Kretschmar Straßenbahn

Undatiertes Aquarell "Straßenbahn" von Bernhard Kretschmar. Das Bild ist eines von den Werken aus dem spektakulären Münchner Kunstfund, die online einsehbar in der Lostart-Datenbank aufgelistet sind.

(Foto: Staatsanwaltschaft Augsburg/dpa)

Möbel und Geschirr für einen Appel und ein Ei verkauft.

Eine Kolumne von Pascale Hugues

Wie viele Jahre werden die Nachbeben der deutschen Katastrophe noch die Gegenwart in diesem Land aufschrecken? Die schwindelerregende Affäre eines von den Nazis konfiszierten Kunstschatzes, der plötzlich in einem Schwabinger Appartement wieder aufgetaucht ist, ist ein wahrer Erdstoß. Die Gemälde von Matisse, Otto Dix und Chagall waren verschwunden - all die Jahre aufeinandergestapelt, in Schränken verräumt. Man dachte, sie seien verloren. Man hatte sie allmählich vergessen.

Als ich die Listen der Wohnungseinrichtungen durchlas, die in den 50er-Jahren von den emigrierten Juden meiner Berliner Straße für die Entschädigungsämter aufgestellt worden sind, habe ich mich oft gefragt, was aus den Frisiertoiletten und Spiegelschränken, Rosshaarmatratzen, dem Meißner Porzellan, dem Mokkaservice und dem Silberbesteck eigentlich geworden ist. Meine Nachbarn haben mir erzählt, dass nach dem Krieg die Perserteppiche in den Hausmeisterwohnungen lagen und dass die Zeitungsverkäuferin plötzlich einen Nerzmantel trug. Aber wo sind die Möbel, die von Trödelhändlern versteigert und für einen Appel und ein Ei an Menschen verkauft wurden, die sich - ohne Skrupel - nur freuten, ein Schnäppchen gemacht zu haben?

Nach langwierigen und peinlichen Prozeduren erhielten die Überlebenden der jüdischen Familien dank der zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik geschlossenen Verträge letztlich eine sehr kleine finanzielle Entschädigung. Aber die Objekte in den Berliner Wohnungen und die Erinnerungen, die daran geknüpft sind, waren für immer verloren. Ich frage mich oft, wie viele Kommoden und Silberlöffel ein neues Leben in den Appartements deutscher Familien von heute fristen.

Es ist viel einfacher, nach 70 Jahren die Spur eines Gemäldes von Matisse wiederzufinden, als ein einfaches Mokkaservice zu identifizieren. Der juristische und wissenschaftliche Aufwand, die Langsamkeit der Untersuchung und das Geheimnis, mit dem der Kunstschatz von Schwabing bis heute umgeben ist, sowie das internationale Interesse, das die Gemälde hervorrufen, zeigen auf exemplarische Weise, dass die Vergangenheit weiter Schatten wirft.

Pascale Hugues berichtet aus Berlin für das Nachrichtenmagazin Le Point.

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