Süddeutsche Zeitung

Mein Deutschland:Der deutsche Kulturinfarkt

Das Feuilleton wird in Deutschland gerne gelesen, in britischen Zeitungen ist es nicht zu finden.

Kate Connolly

Deutsche Feuilletons können ein Thema wochenlang mit einer Verbissenheit bearbeiten, die der eines Hundes gleicht. Auch daher liebe ich die Feuilletons der Zeitungen hier. Allein schon der Name: "Feuilleton" - schwer auszusprechen, aber sehr verheißungsvoll. Und ich liebe die Vielfalt der Themen. Man muss sich nur einen beliebigen Tag herauspicken: Ein Bericht über eine Ausstellung des Malers Lucien Freud in London, eine Filmrezension über einen Schweizer Dokumentarfilm - Thema Schlaflosigkeit, eine Wagner-Aufführung, ein Bericht über japanisches Science-Fiction-Kino, die Wiedereröffnung der Mies-van-der-Rohe-Villa oder eine Studie über die Geschichte der Zigarette. Diese Vielfalt lässt mich allerdings oft verzweifelt zurück - ich fühle mich unzulänglich, wenig belesen, schlecht informiert und faul. So kämpfte ich mich jüngst durch eine Seite Bericht über unsere Fähigkeit zur Konzentration, voller tiefschürfender wissenschaftlicher und philosophischer Details. Und las ihn zu Ende, eben genau weil ich dachte: Wenn ich das nicht schaffe, bin ich ein Paradebeispiel für die Argumentation des Autors und kann mich selbst als ADHS-Patientin einstufen.

In britischen Zeitungen gibt es keine solchen Seiten. Sie sind viel mehr darauf ausgerichtet zu unterhalten, als die grauen Zellen anzuregen. Und sie heißen "Features" oder "Arts" oder auch gelegentlich "Kultur". Aber das ist auf Englisch eher ein schmutziges Wort. Wenn man in England zugibt, dass man Kultur mag, dann ist das, als würde man in Deutschland zugeben, die Bild -Zeitung zu lesen (was ich übrigens tue).

Daher hat mich die Diskussion über den "Kulturinfarkt" hier sehr interessiert. Die Autoren des gleichnamigen Buches fordern, dass die deutsche Kultur von der öffentlichen Hand unabhängiger werden solle, was sich aus britischer Sicht wie eine Luxusdebatte anfühlt, da in Großbritannien genau das Gegenteil zur Diskussion stünde - schließlich wird Kunst dort viel weniger subventioniert. Den Unterschied zwischen der britischen und der deutschen Haltung zu Kultur hat vor zehn Jahren Sir Simon Rattles Wechsel zu den Berliner Philharmonikern deutlich gemacht. Seine Bemerkung, er komme aus England, wo das Kulturministerium der Auffassung sei, dass Kunst von Parasiten für die Reichen gemacht werde, verursachte einen Aufschrei in Großbritannien.

Dort müsste Rattle tatsächlich kämpfen, um Unterstützung für sein Orchester zu bekommen. Das hat aber auch sein Gutes. Vor 20 Jahren starteten die experimentellen Theater in London weitaus spannendere Produktionen als die großen Bühnen wie das National Theatre. Das Ergebnis war, dass diese kleinen Theater die Theaterlandschaft prägten und bewiesen, wie gut es der Qualität tut, wenn man um seine Zuschauer mit hochwertigen Aufführungen buhlen muss. In Deutschland dagegen meint man manchmal, die Leute fühlten sich gezwungen, ins Theater oder in die Oper zu gehen.

Man erinnere sich an Shakespeare. Er musste im 16. Jahrhundert verbissen darum kämpfen, seine Stücke aufführen zu können: Wurden sie ausgebuht, musste er weiterziehen. Und es scheint ihm nicht geschadet zu haben. Das wäre doch ein wunderbares Feuilleton-Thema!

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Kate Connolly berichtet für den britischen Guardian aus Berlin.

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SZ vom 31.03./01.04.2012/ib
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