Mein Deutschland:Brutale Entmystifizierung

Bislang berichteten die Korrespondenten in Deutschland vor allem über gute Bilanzen und bodenständige Chefs - in letzter Zeit hat sich das geändert.

Pascale Hugues

Es gab eine Zeit, da bestand die Aufgabe eines Korrespondenten in Deutschland darin, den Musterschüler Europas zu loben - als ein Paradies mittelständischer Unternehmen mit internationaler Ausstrahlung, dennoch tief verwurzelt in der Provinz.

Mein Deutschland: Bis vor kurzem galt Susanne Klatten als Vorzeigegeschäftsfrau.

Bis vor kurzem galt Susanne Klatten als Vorzeigegeschäftsfrau.

(Foto: Foto: dpa)

Die deutschen Firmen hatten erstaunliche Bilanzen vorzuweisen, einen tadellosen Ruf und tugendhafte Geschäftsbeziehungen. Die deutschen Chefs - in Frankreich traute man seinen Augen nicht - löffelten mittags ihre Bohnensuppe in der Kantine neben ihren Angestellten, bezahlten ihren Kaffee aus der eigenen Tasche, pflegten den kultivierten Dialog mit den Gewerkschaftsvertretern, fuhren Bahn zweiter Klasse und heirateten, nach launigen Spielchen beim Betriebsfest, die Telefonistin der Firma.

Ein rechtschaffene und arbeitsame Welt, ohne Skandale, ohne Korruption und ohne Sex. Geld war da, aber man sah es nicht. Die Reichen waren keine Spieler. Man denke an Adolf Merckle oder Susanne Klatten vor ihrem Sturz, an die Familie Miele oder die Witwe Springer.

Die Milliardäre führten ein geordnetes und diskretes Leben, fernab des Rampenlichts. Der Korrespondent in Italien planschte derweil im Abwasser der Korruptionsaffären, der Korrespondent in Frankreich mühte sich, die politisch-finanziellen-sexuellen Mauscheleien zu entwirren. Der Korrespondent in Deutschland dagegen zog die brave Bilanz der Erfolge. Und, man muss es zugeben, er langweilte sich ein wenig.

Die Zeiten haben sich geändert. Es bedurfte nicht der Finanzkrise, damit die deutsche Fassade in sich zusammenfiel. Kein Land Europas hat solch eine brutale Entmystifizierung durchlebt. In Frankreich ist man verdutzt, man traut seinen Augen nicht, als ruchbar wird, dass die Gewerkschaftsbosse bei VW sich Luxusprostituierte und exotische Reisen aus der Firmenkasse leisten. Oder als die Polizei die Münchner Büros von Siemens stürmt.

Manager werden verhaftet, gigantische Summen sind veruntreut worden. Ein riesiger Betrug. Auch der frühere Chef der Deutschen Post wird vor seiner Villa wie ein Dieb in Handschellen abgeführt. Um Steuern zu sparen, sind enorme Summen nach Liechtenstein geschafft worden. Die Franzosen erstarren.

Man könnte die Aufzählung ergänzen mit der superreichen Erbin und diskreten Mutter, die sich Eskapaden in einem Hotelzimmer mit einem Gigolo leistet, oder mit dem honorigen Minister und sehr katholischen Familienvater aus Bayern, der seine Mitarbeiterin schwängert...

Das öffentliche Leben in Deutschland, einst etwas grau, hat inzwischen alle prickelnden Ingredienzien des perfekten Thrillerszenarios und wird bald dem gleichen Gesetz von Geld - Sex - Macht folgen, das in Frankreich schon immer die herrschenden Eliten regierte.

Deutschland wird normal. Und wir Korrespondenten in Berlin dürfen uns endlich auch ein wenig amüsieren.

Vier Berliner Auslandskorrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: