Dillenburg (dpa/tmn) - „Können Sie das Kind noch heute aufnehmen?“ Julia Seibert und ihr Mann sitzen gerade beim Frühstück, als ein Jugendamts-Mitarbeiter anruft. Es gebe da ein potenzielles Pflegekind. Das 13 Monate alte Mädchen sei noch im Krankenhaus, aber gegen 15.00 Uhr werde es entlassen.
„Es ging alles ganz schnell“, erinnert sich Julia Seibert, die in Dillenburg (Hessen) lebt. „Wir hatten nur fünf Minuten Bedenkzeit.“ Fünf Minuten, in denen die Seiberts eine Entscheidung trafen, die sich für sie auch heute - sieben Jahre später - richtig anfühlt. In der Zwischenzeit sind zwei weitere Pflegetöchter dazugekommen. „Es ist einfach schön, eine Familie zu sein“, sagt die 36-Jährige.
Pflegefamilien kommen dann ins Spiel, wenn Kinder nicht bei ihrer leiblichen Familie aufwachsen können. „Ihre Aufgabe ist es, einen familiären Lebensort zu schenken. Der ist für die Pflegekinder wertvoll, weil sie dort bekommen, was sie bislang in ihrer Kindheit versäumt haben“, erklärt Bertram Kasper. Der Sozialarbeiter aus Marburg leitet den Geschäftsbereich Erziehungsstellen des St. Elisabeth-Vereins, der Pflegefamilien unterstützt.
Interesse muss beim Jugendamt bekundet werden
Pflegekinder bringen zum Teil schwere „Rucksäcke“ mit, in denen Verlust, Gewalt oder Vernachlässigung stecken. Und der Bedarf an Pflegefamilien steigt. Kasper schätzt, dass im Jahr 2020 etwa 90.000 Kinder in Deutschland in Pflegefamilien leben.
Wer mit dem Gedanken spielt, ein Pflegekind aufzunehmen, meldet sich beim zuständigen Jugendamt. „Dort können potenzielle Pflegeeltern herausfinden, ob sie die Voraussetzungen erfüllen“, erklärt Annette Frenzke-Kulbach, Leiterin des Jugendamtes der Stadt Dortmund.
Dabei gilt: Die Lebensform spielt keine Rolle. „Sowohl Alleinstehende als auch Paare - egal ob hetero- oder homosexuell - können Pflegekinder aufnehmen“, so die Jugendamtsleiterin. Auch beim Alter ist die Spanne groß, wobei Pflegeeltern, die einen Säugling oder ein Kleinkind aufnehmen, nicht älter als 45 bis 50 Jahre sein sollten.
Pflegegeld darf nicht als Einnahmequelle dienen
Anders kann es aussehen, wenn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Pflege genommen werden. „Hier ist eine größere Lebenserfahrung von Vorteil - wobei natürlich immer eine individuelle Prüfung durch das Jugendamt stattfindet“, so Frenzke-Kulbach.
Geprüft wird auch die finanzielle Situation. Wer ein Kind in Pflege nimmt, bekommt ein Pflegegeld, das je nach Kommune unterschiedlich hoch ausfällt. Dieses Pflegegeld darf aber auf keinen Fall als eine Einnahmequelle dienen, von der die Familie finanziell abhängig ist.
Auch die Wohnsituation muss passen: Laut Kasper ist es wichtig, dass das Kind - sofern es kein Baby oder Kleinkind mehr ist - ein eigenes Zimmer hat. Wer ein Kind in Pflege nehmen möchte, muss außerdem ein erweitertes Führungs- sowie ein Gesundheitszeugnis vorlegen. Wer schwer krank ist, müsse sich schließlich intensiv um sich selbst kümmern, so Frenzke-Kulbach.
Während bei einer Adoption das Sorgerecht übertragen wird, bleibt es bei einer Pflegeelternschaft beim Jugendamt oder bei den leiblichen Eltern. Deshalb kann es passieren, dass einige Pflegekinder zu ihrer leiblichen Familie zurückkehren oder im Jugendalter in Wohngruppen ziehen. Im Mittelpunkt stehe immer das Wohl des Kindes.
Bis zu einem Jahr Wartezeit aufs Pflegekind
Wer sich beim Jugendamt um ein Pflegekind bewirbt, wird durch Seminare und Beratungen auf den Alltag vorbereitet. Bertram Kasper betont: „Nicht selten haben Bewerber ein unrealistisches Bild von dem, was auf sie zukommt.“ Einige Bewerber unterschätzen auch die Zeit. Zwischen dem ersten Termin beim Jugendamt und der Aufnahme eines Kindes dauert es, je nach Jugendamt, sechs Monate bis ein Jahr.
Bei Julia Seibert waren neun Monate vergangen, bis am Frühstückstisch das Telefon klingelte. „Genau wie eine Schwangerschaft - eine schöne Symbolik“, findet sie.
Service:
Der St. Elisabeth-Verein hat eine Pflegefamilien-Akademie gegründet, die Seminare für Pflegefamilien anbietet: https://pflegefamilien-akademie.de/