Süddeutsche Zeitung

30. April 2009:Befreit uns vom Kapitalismus!

SZ-Leser diskutieren über die Zukunft des Kapitalismus in Zeiten der Krise, den BMI am Check-In und eine Grundsicherung für Kinder.

"Kapital ist zinstragendes Eigentum, Kapitalist derjenige, der ein solches Eigentum besitzt (und damit Einkünfte aus der Arbeit anderer erzielt) und Kapitalismus ein Wirtschaftssystem, in dem die Bedienung des Kapitals Vorrang hat vor allen anderen Einkünften. Insofern trifft der von Nikolaus Piper zitierte Oskar Lafontaine ziemlich ins Schwarze, der Kapitalismus mit den 'gesellschaftlichen Machtverhältnissen' gleichsetzt, Machtverhältnisse, die die katholische Soziallehre - wie auch immer gedacht - durch eine Gleichstellung von Kapital und Arbeit überwinden wollte.

In welchem Maße sich diese Machtverhältnisse in den letzten Jahrzehnten verschoben haben, zeigt ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen Entwicklungen von Bruttoinlandsprodukt (BIP), Nettolöhnen und Geldvermögen in Deutschland: Nach den Zahlen der Bundesbank in Prozenten umgerechnet, nahmen das BIP von 1991 bis 2007 um 58 Prozent und die Nettolöhne um 30 Prozent zu, die Geldvermögen jedoch um 157 Prozent!

Zu einer stabilen Wirtschaftsordnung werden wir nur dann kommen können, wenn die zinsbedingte 'Selbstalimentation der Geldvermögen', wie das die Bundesbank bereits 1993 einmal bezeichnete, zum Stillstand kommt. Das ist jedoch nur möglich, wenn der Zins, als Knappheitspreis und -gewinn des Geldes, den gleichen Marktmechanismen unterstellt wird, wie das bei den Knappheitsgewinnen auf den Gütermärkten der Fall ist: Das heißt, die Renditen aus Geldvermögen müssen mit den Sättigungen in der Wirtschaft - genauso wie die Gewinne - marktgerecht gegen null absinken!

Wie das zu erreichen ist, hat der jetzt wieder zu Ehren kommende John Maynard Keynes in seiner 'Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes', anlehnend an den Sozialreformer Silvio Gesell, bereits 1936 beschrieben: Eine Umlaufsicherung des Geldes durch carrying costs (Durchhaltekosten), würde, wie Keynes wörtlich schreibt, 'den sanften Tod des Rentiers bedeuten und folglich den sanften Tod der sich steigernden Unterdrückungsmacht des Kapitalisten, den Knappheitswert des Kapitals auszubeuten.' Es geht also nicht um eine 'Rettung des Kapitalismus', sondern um dessen Unterordnung unter die Marktkräfte und damit um die Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus!"

Helmut Creutz Aachen

Aus Mangel an Mut

"Hätte Herr Piper im 18. Jahrhundert kurz vor der Französischen Revolution gelebt, dann hätte er vermutlich auch den dringenden Rat gegeben, den 'rationalen Kurs durchzuhalten'. Er hätte dann möglicherweise sinngemäß geschrieben: '... es ist zwar nicht zu leugnen, dass der Feudalismus nicht in allen Aspekten ideal ist, aber er ist das beste System, das wir haben.

Lasst uns an einem humanen Feudalismus arbeiten...'. Die französische Revolution war sicher grauenvoll, aber wer würde heute im Feudalismus leben wollen, wenn man selber nicht gerade Feudalherr ist? Wäre eine humane Form des Feudalismus heute vorstellbar? Es ist Ausdruck des Mangels an Mut und Vorstellungsvermögen, dass alle Anstrengungen derzeit geradezu verzweifelt darauf verwendet werden, den Kapitalismus 'zu retten' und nicht etwa etwas Neues und Gerechteres zu schaffen."

Prof. Dr. Klaus Bitzer Bayreuth

Die Milliarden des Marshall-Plans

"Nach einer kurzen Phase des Schwächelns steht Nikolaus Piper nun wieder auf der Brücke, diesmal im Kostüm von Lucius D. Clay, dem damaligen Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone. Grundlage dessen Politik war die Befürchtung, das deutsche Volk habe die Segnungen des Kapitalismus nicht begriffen. Damals wurde mit den Milliarden des Marshall-Plans das Bild des Kapitalismus in Deutschland wieder aufgepumpt. Heute sind die Milliarden verbrannt, der Pump ist aufgeflogen. Wo Blasen aufsteigen, ist ein Sumpf. Wenn die Milliarden fehlen, ist schwer zu übertünchen, dass die Parole 'Rettet den Kapitalismus!' für 'Rettet den Sumpf!' steht."

Dr. Rainer Gruber München

Gesellschaft der Eigentümer

"Die Abschaffung des Privateigentums kann keine Lösung sein. Aber eine neue Bewertung von Eigentum und Arbeitsplatz könnte Grundlage für ein neues Wertesystem sein. Man könnte die Mitarbeiter auch zu Eigentümern des Unternehmens machen, in dem sie arbeiten, und zwar ausschließlich diese.

Der Kapitalismus wäre abgeschafft, denn Eigentum an den Produktionsmitteln eines Betriebs hätten nur diejenigen, die auch in dem Betrieb produzieren. Staatliche Regeln und Hilfen für in Not geratene Unternehmen und Bürger muss es natürlich weiterhin geben. Es wäre ein langer und schwieriger Weg, eine Gesellschaft zu einer 'Eigentümergesellschaft', wie ich sie nennen würde, umzugestalten. Aber sicher wäre es wert, wenn die Politik sich in diese Richtung bewegte."

Dr. Michael Gläser Braunschweig

Wo bleibt die dritte Gewalt?

"Hat nicht gerade die von Prof. Böckenförde geforderte staatliche Gewalt - vertreten durch 'zahnlose' Aufsichtsräte in Landesbanken - die von ihm beklagte Funktionslogik ausgehebelt? Warum fällt das Drucken von Wertpapieren ohne belastbare Besicherung nicht in eine Kategorie von Falschmünzerei und die Vergabe von 'AAA'-Ratings dafür nicht unter Beihilfe zum Betrug ? Haben nicht Vorstände und deren Aufseher einfachste kaufmännische Sorgfaltspflichten verletzt? Ist nicht das Gegenfinanzieren langfristiger Hypothekendarlehen mit kurzfristigen Papieren längst illegal? Ist es möglicherweise nicht das Wirtschaftssystem sondern die Rechtsprechung als dritte Gewalt, die reformiert werden muss?"

Dr. Dirk Bade München

Verantwortung vor der Schöpfung

"Auf den Text von Ernst-Wolfgang Böckenförde kann Ihre Zeitung stolz sein. Trotzdem, der Autor springt zu kurz. Wie der Kapitalismus braucht auch der Mensch als Gattung klare Grenzen seiner Expansion, was Einschränkung und Verzicht bedeutet. Der Kapitalismus ist nur das effektivste Vehikel beim Wecken und bei der Befriedigung von Nachfrage nach Dingen, die der Mensch zum Glücklichsein nicht braucht.

Daher taugen weder die katholische Soziallehre noch der Gewerkschaftsbegriff der Solidarität, auch nicht das von ihm erwähnte Naturrecht, so lange es von der katholischen Theologie nicht primär als Gebot zur Erhaltung der Schöpfung interpretiert wird. Der adäquate ethische Begriff ist deshalb Verantwortung, etwa im Sinne des Philosophen Hans Jonas. Es geht um Verantwortung vor der Schöpfung."

Prof. Dr. Volkmar Lehmann Hamburg

Übergewicht als Übergepäck

"Es ist höchste Zeit, dass Fluggesellschaften Zusatzgebühren für Übergewichtige einführen ('Gebühr für Übergewichtige' vom 23. April). Doch bisherige und geplante Regelungen erscheinen mir schlecht durchdacht, sie sind zu wenig differenziert. Wenn ich mit einem Koffer, der mehr als 20 Kilogramm wiegt, eine Flugreise antrete, stelle ich mich beim Check-In hinter Personen an, deren beträchtliches Übergewicht gewissermaßen in die Augen springt beziehungsweise mangels Sprungkraft nicht zu übersehen ist.

Werde ich dann am Schalter mit strenger Miene auf das Übergewicht meines Koffers hingewiesen, deute ich - mit dezenten Handbewegungen - auf die gerade 'abgefertigten' Passagiere und nenne meinen Body Mass Index mit der Aufforderung, man möge auf Grund des sichtbaren Tatbestandes zu einem menschenfreundlichen Gesamturteil gelangen, also den Disput gebührenfrei beenden. Da diese Strategie bisher stets erfolgreich war, vergebe ich bei den Umfragen der Fluggesellschaften für die Freundlichkeit des Bodenpersonals die besten Bewertungen. Abschließend sei die Frage erlaubt: Warum stellt man nicht 'in kritischen Fällen' Passagier und Gepäck zusammen auf die Waage?"

Dr. Jürgen Harbich Feldkirchen-Westerham

Grundsicherung für Kinder

"Endlich ein realistischer Vorschlag zur Bekämpfung der Kinderarmut ('500Euro pro Kind' vom 15. April). Im vergangenen Jahrhundert reichte das Einkommen eines Arbeiters noch aus, um den Grundbedarf einer Familie zu decken. Heute reicht ein Mittelschichtseinkommen oft nur für ein bis zwei Personen. Familien müssen dann den gesammelten Bedarf der Kinder vom Kindergeld bestreiten. Da dies völlig unzureichend ist, leben immer mehr Kinder in realer Armut. Vereinzelte Negativ-Beispiele können kein Grund sein, der überwiegenden Mehrheit der Familien ausreichende Unterstützung zu verweigern. Die Kosten sind, im Vergleich zu anderen staatlichen Subventionen, marginal. Was könnte systemrelevanter sein als die Lebensbedingungen unserer Kinder?

Wenn die Mehrheit der Familien es trotz Unterfinanzierung schafft, den Unterhalt der Kinder zu gewährleisten, beweisen sie eine größere Wirtschaftskompetenz als viele Politiker. Eine Grundsicherung für Kinder löst nicht nur das Problem der Kinderarmut, sondern stellt auch den Lohnabstand sicher."

Marita Rosenbaum Potsdam

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SZ vom 02.05.2009/sus
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