Zum Nordpol und zurück (VIII):90 Grad, null Minuten, null Sekunden

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Um 6.51 Uhr springt die Anzeige im Display um. 90 Grad. Wir haben den Pol erreicht. Champagner fließt. Und dann ergeht es uns wie den Eisbären.

Birgit Lutz-Temsch

Koordinaten: Am Donnerstag um 6.51 Uhr: 90 Grad nördlicher Breite. Temperatur: Null Grad. Geschwindigkeit: keine.

Die Anzeige springt um. 90 Grad. Der Nordpol. Seit etwa einer Stunde sind wir ihm schon sehr nahe. Per Lautsprecher wurden wir am Morgen um halb sechs Uhr geweckt. Alle auf die Brücke. Noch 900 Meter.

Auf der Yamal dürfen fast alle Passagiere fast immer überallhin. So auch jetzt. Backbord auf der Brücke arbeiten Kapitän und Steuermanner konzentriert daran, das Schiff exakt auf den Punkt zu bringen. Ausnahmsweise ist dieser Bereich jetzt mit einem dünnen Seil abgesperrt. Auf dem Rest der Brücke versammeln sich die Passagiere. Der Champagner steht bereit.

Aber wieder und wieder wird der Punkt verpasst. "Manchmal dauert es zehn, manchmal 40 Minuten, bis wir den Nordpol genau erwischen", sagt Viktor. Der muss es wissen. Er kann auf dieser Reise ein Jubiläum feiern. Zum 50. Mal ist er am Nordpol. "Mit Skiern ist es einfacher", sagt er. "Zumindest auf den letzten Metern, wenn man nicht dieses riesige Schiff bewegen muss."

Die Passagiere beginnen sich um die besten Plätze vor dem Display zu kloppen. Dann ist es soweit. Das Schiffshorn ertönt. Wir sind da. Champagner fließt.

Vor 107 Stunden haben wir in Murmansk abgelegt. Ein beeindruckender Weg liegt hinter uns. Der noch viel mehr bedeutet als das Ziel. Wir haben viel gelernt. In der Nacht vor der Polerreichung war die Sicht klar. Die Mitternachtssonne malt gelbe Streifen an den Himmel. Lässt den Schnee auf den Eisschollen glitzern. Blaue Lagunen schimmern auf der weißen Schneedecke.

An den smaragdfarbenen Wasserstellen hängt eine Eisschicht an der Oberfläche, die das Wasser zähflüssig aussehen lässt. Wenn die Yamal durch das Wasser pflügt, sieht es im Sonnenlicht aus, als würden kleine Diamanten vom Bug spritzen. Stunde um Stunde konnte man wieder an Deck stehen. Und staunen.

Wir driften weg

Jetzt hat es zugezogen. Wir sehen nicht weit. Die Anzeige auf der Brücke ist schon nach wenigen Sekunden wieder umgesprungen. Auch wenn die Maschinen still stehen und wir einige Stunden hierbleiben werden: Wir entfernen uns schon wieder vom Pol. Die Drift schiebt uns zurück. Die Kompassnadeln aber zittern immer noch.

Hier, am geografischen Nordpol, wehen alle Winde nach Süden. Nur einmal im Jahr wird es Tag, und nur einmal Nacht. Alle Meridiane gehen von hier aus. Und um diesen Platz dreht sich unsere Welt: Wir sind jetzt dort, wo beim Globus die Halterung steckt. Wo die Erdrotationsachse an die Oberfläche kommt. 24 Stunden braucht die Erde, um sich einmal zu drehen. So nah an der Achse bewegen wir uns dabei im Vergleich zu den Menschen am Äquator kaum.

Zum ersten Mal erreichte ein Mensch diesen Punkt am 9. April 1909 - oder am 21. April 1908, genau weiß man das nicht. Um die erste Polerreichung stritten sich zwei erbitterte Konkurrenten: Der amerikanische Entdecker Robert Peary und Frederick Cook, und es ist bis heute nicht klar, wer wirklich zuerst dort war.

Die Motive der Entdecker sind klar: Bevor Peary aufbrach, schrieb er an seine Mutter: "Denke daran, Mutter, ich muss berühmt werden und ich kann mich nicht mit Jahren ganz gewöhnlicher Plackerei abfinden und mit spätem Ruhm, wenn ich eine Möglichkeit sehe, ihn jetzt zu erwerben und mich an diesem köstlichen Trank zu laben."

Am 9. April 1909 notierte er in sein Logbuch: "Der Traum, den ich seit 20 Jahren gehegt habe, ist wahr geworden. Es ist schwer zu glauben. Alles scheint so klar und einfach zu sein." Auch wenn unsere bequeme Reise mit den Leistungen der Entdecker nicht zu vergleichen ist: Auch manche von uns hatten diesen Traum sehr lang.

Nach seiner Rückkehr musste Peary aber feststellen, dass Frederick Cook ihm seine Poleroberung streitig machte. Darüber machen wir uns keine Gedanken. Wir wissen, dass wir nicht die Ersten sind.

Ein Tag im Eis

Und dann geht es uns ein bisschen wie den Eisbären, denen ihr Lebensraum unter den Pranken wegschmilzt: Wir finden kein Eis, das groß und sicher genug für uns alle ist. Fast zwei Stunden suchen die Navigateure der Yamal gemeinsam mit Expeditionsleiter Viktor nach einer Scholle, die uns alle aufnehmen kann.

Schließlich macht er eine Eisfläche aus, die wenigstens für einen Kompromiss taugt: Wir werden alle mit dem Helikopter hinunter geflogen. Aber es wird nur ein etwa zweistündiger Aufenthalt werden. Und niemand darf baden. Alles wird auf einen engeren Radius um das Schiff begrenzt als sonst.

Es geht also in den Hubschrauber, und natürlich dreht der Pilot seine Runde so, dass man einen luftnehmenden Blick auf die Yamal hat. Dann landen wir auf dem Eis.

Das Glück am Ende der Welt

Und mit einem Mal kommt da ein Hochgefühl, dass man so nicht erwartet hat. Eine Glückswelle durchströmt alle Passagiere. Das Eis, auf das man nun tagelang gestarrt hat, auf einmal steht man auf ihm. So nah ist man an den Cracks, die die Yamal gerissen hat, dass man jetzt fast hineinfallen könnte. Das Blau der Gletscherlagunen, jetzt kann man es anfassen.

Und irgendwann entlädt sich die Freude in einer Schneeballschlacht. Der Himmel ist silbern. Wir sind glücklich.

Wir haben nichts dazu beigetragen, dass wir hier sind, weder körperlich, noch in der Kunst der Navigation. Ein alter Bergsteigerspruch sagt: Nur wo Du zu Fuß warst, warst Du wirklich. Das stimmt auch. Immer.

Aber wir freuen uns trotzdem. In einem großen Kreis stehen wir um das Nordpol-Schild. Vom Schiff tönt Musik. Wir tanzen um das Schild, das den 90. Grad anzeigt. Er ist es gar nicht? Das ist jetzt egal. Es ist das Symbol, das zählt. Ein Mitreisender misst mit seinem GPS, dass wir 22 Kilometer vom echten Pol entfernt sind. Wäre da mal eine Scholle gewesen.

Bewachte Entspannung

Uns bleibt genügend Zeit, auf dem Eis zwischen den eingeschlossenen Schmelzwasserseen hin und her zu wandern. Wir dürfen so weit durch das wässrige Weiß stapfen, bis wir auf die bewaffneten Posten treffen: Rund um die Yamal und die ausflippenden Touristen wird sehr genau darauf geachtet, ob sich ein hungriger Eisbär nähert.

Und für diesen Fall gibt es halbautomatische Waffen. Die russischen Seeleute, die auf den ersten Blick nicht vertrauenserweckend wirken, dienen aber sehr gerne und sehr freundlich lächelnd als Fotomodell. Und alles ist halb so wild.

Nach zwei Stunden geht es wieder zurück. Es folgt ein Barbecue auf dem Deck der Yamal, das sehr schnell in einen ausgelassenen Tanz übergeht. Über der Yamal wehen die Fahnen Russlands, Polens, der USA, Deutschlands, Japans, Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande und der Schweiz - und vielleicht ist das am allerschönsten an der ganzen Reise: Wir sind viele Menschen, aus vielen Regionen und Nationen. Uns eint nun ein Erlebnis. Und wir feiern es zusammen.

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