Wintersport in den Alpen:Wer hat's erfunden?

Switzerland Winter; Skihistorie

Ein Skifahrer in der Schweiz, 1925.

(Foto: Switzerland Tourism)

Die Schweizer feiern in dieser Saison 150 Jahre Wintertourismus. Zu Recht? In Österreich macht man ihnen das Jubiläum streitig. Weil sich Tradition gut verkauft, deutet jeder die Geschichte für sich.

Von Dominik Prantl

Es gibt eine wirklich sehr schöne Geschichte über die Anfänge des Wintertourismus, die gerade so dermaßen gut in die Jahreszeit passt, dass sie in diesen Wochen von allerlei Medien zwischen Färöer-Inseln und Schwarzwald nacherzählt wird. Sie wird gemeinhin gerne mit dem Zusatz versehen, dass sie zu gut sei, um erfunden zu sein, und sie geht sinngemäß ungefähr so: Der Hotelier Johannes Badrutt vom Kulm Hotel in St. Moritz soll anno 1864, also vor genau 150 Jahren, seinen englischen Sommergästen vorgeschwärmt haben, wie toll im Engadin selbst die kalte Jahreszeit sei, mit blauem Himmel und voller Sonne. Jedenfalls viel schöner als auf der feuchten, grauen Insel. Weil sich die Briten das nicht vorstellen konnten, lud Badrutt seine Besucher auf einen Winterurlaub ein und bot an, die Reisekosten im Fall der Unzufriedenheit zu übernehmen. Natürlich wurde die Geld-zurück-Garantie nie fällig, denn die Engländer fuhren erst an Ostern heim, braun gebrannt und bestens erholt, wie es heißt.

Dass sich das Jetset-Bergdorf samt eines seiner besten Hotels mit dieser Geschichte, gerne als "die Wette" tituliert, derzeit als "Geburtsstätte des Wintertourismus" feiert, gehört zu den üblichen Mechanismen des Gewerbes. Etwas merkwürdig ist nur, wie bereitwillig damit auf allen möglichen Kanälen eine breit angelegte Werbung in Engadiner Sache betrieben wird. Dabei soll St. Moritz wahlweise den Tourismus oder gleich den ganzen Wintersport erfunden haben. Immerhin hat das Autorenteam um den Journalisten Michael Lütscher für den kürzlich im Auftrag der Gemeinde St. Moritz erstellten Band "Schnee, Sonne und Stars" etwas genauer hingeschaut und die Geburtsgeschichte als "kreatives Marketing" bezeichnet - was man eine durchaus kreative Bezeichnung nennen darf.

Beweisdokumente wie Kopien der Verzeichnisse über die ersten Wintergäste seien nämlich leider nicht mehr auffindbar. Auch sei die Wette erst 1956 von Johannes Roth zum ersten Mal erwähnt worden, in einem Hörspiel. Roth war wiederum mit Anton Badrutt, einem Enkel von Johannes und ebenfalls Kulm-Hotel-Direktor, befreundet.

In dem Hörspiel wurde die Wette zudem noch im Jahr 1866 angesiedelt, heißt es in Lütschers Werk; erst Anton Badrutt und der Kurverein hätten die Wette schließlich ins Jahr 1864 vorverlegt. Interessanterweise feiert Davos schon seit 1885 den Jahrestag der Ankunft seiner ersten Wintergäste. Die kamen, so die Überlieferung, im Februar 1865, und damit kurz nach jenen in St. Moritz. Auch hatten die ersten Wintertouristen weniger die klassische Leibesertüchtigung im Sinn als das Kurieren oder Vorbeugen von Krankheiten. Wellness statt Wintersport.

Das Beispiel zeugt nicht nur davon, wie Geschichtsschreibung mit etwas Selbstbewusstsein ihrer Urheber funktionieren kann, es erzählt auch einiges über Werdegang und Struktur des Geschäfts mit dem Alpenwinter.

Rihanna oder gleich Robbie Williams

Mal abgesehen vom Wetter, das sich zum Saisonauftakt wieder jeglichen kommerziellen Interessen einfach verweigert, ist der Wintertourismus in den Alpen auf dem Papier keine sonderlich komplizierte Sache. Er sieht meistens sehr ähnlich aus. Die Basis: ein paar Berge, am besten hohe, nicht allzu steile. Dazu braucht es viele schöne, neue Lifte und neben den Pisten seit neuestem auch ein paar Rampen und Schanzen aus Schnee, wo manche Menschen Dinge machen, die viele nicht einmal aussprechen können - schon mal einen Backside 180 Manual Backside 180 Nosetap Revert probiert? Wer die Jugend der Skiwelt locken möchte, stellt außerdem so genannte Schirmbars auf. Ein noch besseres Lockmittel: Events. Am besten welche mit Rihanna oder gleich mit Robbie Williams, auf jeden Fall mit einem internationalen Superstar, wie man als Werbemensch sagt. Für die gemütlichere Klientel reichen dagegen vielleicht schon ein paar Loipen. Gut machen sich daneben auch Pferdeschlitten vor einer verrauchten "Fonduekuchl" mit einem Interieur, das Gäste als Hüttencharme interpretieren könnten. Und dann, als ultimatives I-Tüpfelchen: Tradition.

Mit dem nötigen Kleingeld kriegt man die Urlaubswelt für Skitouristen eigentlich ganz gut hin. Robbie Williams kann man buchen, Rampen lassen sich formen, und der Schnee kommt notfalls aus Kanonen. Nur das mit der Tradition ist nicht so einfach. Die Zeit lässt sich schließlich auch mit Bergen von Geld noch immer nicht um Jahrzehnte zurückdrehen oder gar bis 1864. Dabei ist die Tradition gerade ein echter Renner, eigentlich kann man gar nicht genug davon haben. Sie scheint eines der wenigen Mittel zu sein, um sich irgendwie abzuheben von den gleichförmigen Angeboten. Am besten, der Ort hat gleich den ganzen Wintersport erfunden. Oder zumindest das Skifahren.

Fuhren nicht schon die Mönche am Großen St. Bernhard Ski?

Auf einer Reise durch die mehr oder weniger kreative Geschichte von Alpen- und Skitourismus kann man jedoch schon einmal den Überblick verlieren, wer nun wo genau der wirklich allererste Pionier war. St. Moritz nennt sich die Geburtsstätte des Wintertourismus, obwohl es den Titel fairerweise mit Davos zumindest teilen müsste. Gleichzeitig lässt sich freilich nicht ausschließen, ob nicht schon irgendwo anders in der vorhistorischen Winterwelt ein paar Angelsachsen oder auch nur Sachsen von einem weniger pfiffigen Hotelier als Badrutt beherbergt wurden und demnächst dessen Urururenkel mit kreativem Marketing um die Ecke biegen.

Die Gemeinde Saas-Fee im Wallis schärft im Windschatten des St. Moritzer Jubiläumsjahres wiederum die Kundensinne für den ersten Schweizer Skiläufer vor 165 Jahren und das eigene Profil als "Wiege des Schweizer Skisports", wie es in einer Mitteilung heißt. Damals, im Dezember 1849, habe den Pfarrer Johann Josef Imseng die Nachricht erreicht, dass ein Gläubiger im Sterben liege - inmitten einer tief verschneiten und zu Fuß nur schwer zu erreichenden Landschaft. Und weil Imseng nicht nur Geistlicher war, sondern auch Visionär und Pionier, schnallte er sich zwei Bretter unter die Schuhe, um seiner Pflicht nachzukommen. Passend dazu bietet seine Heimatgemeinde 165 Jahre später "Nostalgiewochen im Januar" an.

Überhaupt: die Pfarrer. Sofern die Überlieferungen in ihrem Kern stimmen, müssen die Geistlichen einst so etwas wie die von Gott gesandte Speerspitze des alpinen Skilaufs gewesen sein. In der Gemeinde Warth im Westen Österreichs gibt es für geschichtsinteressierte Gäste mittlerweile eine "Pfarrer-Müller-Tour". Sie erinnert an Johann Müller, der Ende des 19. Jahrhunderts als Pfarrprovisor in Warth tätig war und ebenfalls auf Brettern in die Ortschronik rutschte. Müller soll seine Skier sogar in Norwegen bestellt und nachts heimlich im Pfarrhof geübt haben, bevor er zur ersten ernsthaften Skitour nach Lech aufbrach. Er gilt jedenfalls als erster Skiläufer der Arlberg-Region, die sich heute das Motto "Wiege des alpinen Skilaufs" auf die Fahnen schreibt.

Aber wurden in Trysil in Norwegen nicht schon lange vorher - die Angaben schwanken zwischen 1855 und 1862 - bereits richtige Skirennen ausgetragen? Fuhren nicht schon die Mönche am Großen St. Bernhard gegen Ende des 19. Jahrhunderts Ski? Warum trägt der Skiclub Todtnau im Schwarzwald die Jahreszahl 1891 im Namen? Und sogar in dem bayerischen Tal namens Jachenau, in dem einen heute noch das Gefühl beschleicht, die Innovationen träfen dort erst mit einem Jahrhundert Verzögerung ein, bewegte sich schon 1885 ein Mann auf Latten über die Schneedecke. In diesem Fall war es jedoch kein Geistlicher, sondern Forstmeister Maximilian Lizius. Warum hat den niemand auf der Liste?

"Diese legendären Figuren gibt es fast überall", sagt Bernhard Tschofen. Tschofen ist Professor am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Uni Zürich. Er hat mit einem ganzen Team mehrere Jahre lang über die Skigeschichte am Arlberg geforscht und die Essenz zusammen mit Sabine Dettling in dem Bildband "Spuren. Skikultur am Arlberg" veröffentlicht. Für ihn ist nicht entscheidend, wann und wo erstmals ein Mensch in den Alpen durch den Schnee gebrettert ist. "Diese vormodernen Formen wurden ausgegraben, um dem Skifahren noch mehr Tradition zu geben." Ihm geht es um andere Dinge wie: technischen Fortschritt, Wissensvermittlung, Körperbewusstsein. So sei die Arlbergtechnik noch heute die Grundlage der modernen Ski-Techniken. "Wenn sich der Arlberg als Wiege des alpinen Skilaufs bezeichnet, dann mag uns das als Werbeslogan erscheinen. Aber es ist viel dran."

Es ist jedenfalls kein Zufall, dass sich die legendären Figuren und die Skihistorie vor allem auf die Schweiz und Österreich konzentrieren. "In Italien und Frankreich spielen die Berge eine ganz andere Rolle. Skitourismus findet dort eher in urbanen Satelliten statt", sagt Tschofen. In den Ostalpen sei das Skifahren dagegen vielmehr aus der Alltagskultur heraus entstanden.

Mit Spaß runterkommen

Während aber St. Moritz oder auch Davos den Wintersport bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem über Eissportarten wie Schlittschuhlaufen und die Rodeldisziplinen Cresta und Skeleton definierten, profilierte sich die Arlbergregion mit St. Anton in den 1920er-Jahren als Innovationszentrum des Skifahrens. Erst hier wandelte sich das exotische Hobby einiger geistlicher Pioniere zum touristischen Phänomen, hier wurde die Grundlage für die spätere Infrastruktur mit Liften, Events und Schneekanonen geschaffen, oder wie Tschofen sagt: "Hier muss man den Punkt setzen, ab dem man von modernem Skilauf sprechen kann." Bei dem gehe es nämlich vor allem darum: "Mit Spaß runterkommen."

Skihistorie

Hannes Schneider und seine Skispuren im österreichischen St. Anton - der Ort profilierte sich bereits in den 1920ern als Innovationszentrum des Skisports.

(Foto: TVB St. Anton am Arlberg)

Hannes Schneider erarbeitete sich in St. Anton als Leiter der ersten Skischule im Alpenraum in den 1920ern einen so guten Ruf, dass sogar die Schweizer eine Kommission entsandten, zum Zweck des Nachhilfeunterrichts. Dabei sei das Urteil über die Lehrgänge der Eidgenossen nach der Tourismusspionage vernichtend ausgefallen, heißt es in Lütschers "Schnee, Sonne und Stars". Die Schweizer Kurse seien viel zu kompliziert und würden nicht nur die Anfänger, sondern sogar die Skilehrer überfordern. Der österreichische Unterricht dagegen: "Einheitlich und einfach."

Bleibt nur die Frage, wo die ersten Skier erfunden wurden. Wer bislang der Überzeugung war, dass jene Bretter, die für viele Orte die Welt bedeuten, ihren Ursprung in Norwegen haben, muss sich wieder einmal eines Besseren belehren lassen. Die Schweizer Gemeinde Disentis Sedrun lädt jedenfalls dazu ein, die "Geburtsstätte des ultimativen Skis" kennenzulernen.

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