Wintersport im Erzgebirge:Oberwo?

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Die Fichtelbergbahn im Erzgebirge - nur eine der Attraktionen. (Foto: Corbis/Getty Images)

Die Gegend ist vielen unbekannt. Dabei hat Oberwiesenthal Superlative zu bieten: höchste Stadt Deutschlands, sechs Schanzen, den Skispringer Jens Weißflog - und schneesicher ist es im Erzgebirge auch noch.

Von Ulrike Nimz

Brigitte Roscher kennt 43 Arten von Schnee, Flaumschnee, Firn, Champagner-Puder. Am liebsten hat sie Oberflächenreif. Nach sternklaren Frostnächten liegt der über dem Land wie ein von Silberfäden durchwirkter Teppich. Heute, bei fünf Grad und Nieselregen, türmt sich Pappschnee in den Gassen Oberwiesenthals. Eine tauwasserschwere Masse, die Stiefel frisst und beim Laufen ein Geräusch macht wie Brei, der von einer schlecht gelaunten Kantinenkraft auf den Teller geklatscht wird.

Roscher wurde 1951 auf dem Fichtelberg geboren, dem höchsten Punkt der DDR. Ihr Vater war Chef der Wetterstation und die Mutter zu stolz für ein Krankenhaus. Als das Kind Ende Mai die Welt erblickte, war die Welt noch weiß.

Brigitte Roscher ist Ahnenforscherin, Sprachwissenschaftlerin, Bergretterin, und sie war nie wirklich weg aus Oberwiesenthal. Sie besitzt den Schlüssel zur Martin-Luther-Kirche und hat ein Buch geschrieben über die Skischulen im Ort. Im Flur ihres Hauses hängt der Stammbaum von Adam Ries, in der Stube ein Lüster aus Ahornholz - Laubsäge, Sandpapier, ein ganzes Jahr Arbeit. Brigitte Roscher hat schon geschnitzt, als das noch Männersache war. Ihre ältesten Bergmann-Figuren haben scharfe Kanten im Gesicht, die Züge der jüngsten sind weicher. Ganz wie im echten Leben. Wer etwas oder alles wissen will über das Erzgebirge und Deutschlands höchstgelegene Stadt, der muss mit Roscher winterwandern, hinab in den Zechengrund, wo statt einer Pistenparty der Wind in den Bauwipfeln tobt.

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Seit dem 16. Jahrhundert haben sie hier geschürft und gegraben, nach Silbererz und Uranerz. Wer den Zechengrund durchstreift, findet im Sommer nicht nur Bärwurz, Rot-Schwingel und Perücken-Flockenblumen, sondern noch Halden und Stolleneingänge im Unterholz. Ungeübte Ohren verstehen manchmal "Tschechengrund", sagt Brigitte Roscher, bis zu den Knien im Schnee. Ganz falsch ist das nicht: Jenseits des Pöhlbachs, dieser gurgelnden Grenze, haben sie ihre eigenen Winterparadiese. Der Klínovec ist 30 Meter höher als der Fichtelberg. In Boží Dar ziehen sie Skilifte und Hotels schneller hoch als auf deutscher Seite, auch weil die bürokratischen Hürden niedriger sind.

Trotz grenzübergreifenden Marketings spüren sie eine gewisse Konkurrenz in Oberwiesenthal. Vor allem jetzt, im "Januarloch", der toten Zeit zwischen dem Dreikönigstag und den Winterferien. Im Rathaushotel und im Eschenhof werden die leeren Zimmer mit Schulklassen gefüllt. Die Fichtelbergbahn ist voll mit kleinen Spongebob-Rucksackträgern und erschöpften Lehrern. 62 Minuten dauert die Fahrt von Cranzahl hinauf bis zum Bahnhof Oberwiesenthal. Unterwegs werden die Weichen noch von Hand gestellt. Abseits der Schienen ducken sich Dörfer mit seltsamen Namen in den Schnee. Bei Kretscham-Rothensehma hat jemand "Rolling Stones" auf einen Stein gepinselt. Unklar, ob damit die Band gemeint ist oder doch nur Geröll.

Brigitte Roscher mag die Stones. Früher habe sie hin und wieder Platten aufgelegt, sagt sie. Beim Polterabend des Skispringers Jens Weißflog zum Beispiel, als der zum ersten Mal heiratete. Sie zieht die Strickmütze ab und tritt aus dem Wald auf die Bundesstraße, die schneefrei zurück in den Ort führt. "Die Wege sind ja Gott sei Dank kurz hier", sagt Roscher und zeigt alle Zähne. "Auch zum Friedhof." Im Erzgebirge ist der Humor manchmal dunkel und Oberwiesenthal am schönsten im schwindenden Licht. Dann glimmen die Lichterbögen hinter den Fensterkreuzen. Neben den Pisten ist es das, was Touristen so reizt: weihnachtliche Heimeligkeit bis Ostern.

Noch in den Sechzigerjahren gab es hier kaum genug Betten, später Betriebsferienheime, für Stasi, Armee oder Kumpel. Inzwischen ist Oberwiesenthal ein moderner Ferienort, mit Beschneiungsanlage und hinreichend Hotels. Eines davon liegt am Schlepplift "Himmelsleiter". Es trägt den Namen eines Mannes, den auch kennt, wer von Oberwiesenthal noch nie gehört hat.

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Vielen immer noch unbekannt, und doch voller Superlative: die Gegend Oberwiesenthal. Impressionen in Bildern.

Jens Weißflogs Haare sind grau geworden, er trägt Blue-Jeans und ein gestärktes Hemd. Man kann das erwähnen, weil ihn die meisten ja nur in diesem Sprunganzug aus leuchtendem Schaumstoff kennen, der immer so aussah, als ob er essbar wäre. Der Anzug hängt jetzt im neuen Stadtmuseum. Aber wenn man dem Olympiasieger, Weltcupsieger, Vierschanzentourneesieger gegenübersteht, ergänzt das Hirn noch immer den zarten Flaum auf der Oberlippe, dabei ist der Schnauzer längst ab.

Weißflog empfängt in der "Lodge" seines Hotels, einem Anbau mit Blockhüttenfeeling. Es gibt Elchgeweihe und Tannenzapfen-Deko. Vom Ohrensessel aus kann man dem Schnee beim Graupeln zuschauen. Zu DDR-Zeiten war dies das Gästehaus von Stasi-Chef Erich Mielke. Mitte der Neunzigerjahre ließ Weißflog das Gebäude aufmöbeln. Nach 15 Jahren Weltcup kennt er sich nicht nur mit Thermik und Telemark aus, sondern auch mit wohnlichen Ski-Hotels.

Die Apartments und Suiten sind nach Orten benannt, an denen Deutschlands erfolgreichster Skispringer einst triumphierte: Lahti, Lillehammer, Bad Mitterndorf. Auf den Gängen hängen die Leibchen von damals, in der Lobby funkeln Siegerschüsseln. Offen bleibt, ob es dem Schweizer Springer Simon Ammann behagt, dass ein Geschnetzeltes nach ihm benannt ist.

Das Geschäft laufe gut, sagt Weißflog, Betten sind selten frei. Die meisten Besucher kommen aus Sachsen, und natürlich kommen sie seinetwegen. Jens Weißflog hat mehrere Systemwechsel gemeistert. Vom Parallel- zum V-Stil, vom Sozialismus zur sozialen Marktwirtschaft. Nach der Wiedervereinigung fuhr er mit seinem Škoda nach Hinterzarten, um sich vom Vater seines westdeutschen Konkurrentenkollegen Dieter Thoma erklären zu lassen, wie das so läuft mit Sponsoren und Stirnbandwerbung. Jens Weißflog, gelernter, aber untalentierter Elektroinstallateur, hatte lange keinen Plan B: "Ich lebte so gut wie ich sprang."

Ein Spaziergang hinüber zur Fichtelbergschanze, von Einheimischen nur "de Ficht" genannt. Hier hat Jens Weißflog seinen letzten Sprung getan, am 15. Juni 1996, beim Abschiedsspektakel auf Matten. Man kann davon ausgehen, dass er die Sache ernst genommen hat: 102 Meter waren es am Ende, damals Schanzenrekord, was sonst.

Weißflog ist 20 Kilometer entfernt in Pöhla aufgewachsen. Selbst im Sommer schnallte er Skier unter und scheuerte damit über die heimatlichen Hügel. Im Winter baute er auf denen dann gleich selbst eine Schanze, Bestweite damals: ein Meter. "Ich konnte schon nicht beim Mensch-ärgere-dich-nicht verlieren", sagt Weißflog. Und wer gehört hat, wie er über Auslastungen und Margen spricht, ahnt, dass es heute kaum anders ist.

Jens Weißflog hat ein Gespür dafür, wenn sich Fehler einschleichen in ein scheinbar funktionierendes System. Beim Skispringer Weißflog waren es die Arme, die er beim Absprung am Schanzentisch zu tief hängen ließ. Der Hotelier sagt: In Oberwiesenthal hängen die Erwartungen zu tief. Man nenne den Ort ja nicht umsonst das "sächsische St. Moritz", so Weißflog, es gebe so viel, worauf man stolz sein könne. Die älteste Schwebebahn Deutschlands bringt 44 Passagiere in knapp vier Minuten auf den Gipfel. Es gibt sechs Schanzen und eine Elitesportschule. "Vor allem aber haben wir hier einen Berg, auf dem die meiste Zeit Schnee liegt, und im Rest von Deutschland weiß das niemand", sagt Weißflog.

Früher sei das Marketing Aufgabe eines Tourismusvereins gewesen, der Einnahmen aus der Kurtaxe dafür nutzte, Oberwiesenthal jenseits des Erzgebirges bekannt zu machen. 2005 haben sie eine 20 Meter hohe hiesige Fichte auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz geschafft. Die Übernachtungszahlen hätten sich binnen weniger Jahre fast verdoppelt, so Weißflog. Doch in der Stadtkasse machte sich das nicht bemerkbar. Es folgten Streit und Hausdurchsuchungen. Heute hat die Stadt die Vermarktung wieder selbst in der Hand, und Weißflog, seinerzeit Vorsitzender des Tourismusvereins, kann seinen Unmut schlecht verbergen, wenn er über zu wenig Werbung und Schleuderpreise spricht.

Nach der Wende ist Weißflog viel Neid entgegengeschlagen. Er galt als Günstling, erst geformt, dann verbogen hinter den verschlossenen Türen der Sportinternate. Bekannte grüßten nicht mehr, Unbekannte verzierten sein Auto mit Klebeband. Aber Gegenwind, das hat Jens Weißflog beim Skispringen gelernt, muss keine schlechte Sache sein. Er trägt einen auf ungeahnte Weiten.

Heute ist Weißflog, ehemaliger Abgeordneter der Volkskammer, Ehrenbürger von Oberwiesenthal. Er sitzt für die CDU im Stadtrat und einmal im Monat mit seinen Gästen zusammen. "Kaffeeklatsch mit Jens" heißt das Format. "Für 9,90 Euro gibt es Kaffee, Kuchen und mich", sagt Weißflog. Er erzählt dann, wie er 1984 mit dem Zug zu den Olympischen Spielen nach Sarajevo fuhr, 36 Stunden. Wie er es genoss, nur aus dem Fenster zu schauen und an nichts zu denken.

Ganz so wie es Besucher heute in der "Lodge" tun sollen. Die Besucher aber fragen lieber nach Selfies, Autogrammen und manchmal seltsame Dinge. Einmal habe jemand wissen wollen, wie es sich anfühlt, in Innsbruck von der Bergiselschanze aus 134 Metern Höhe auf einen Friedhof zu schauen. Jens Weißflog, halb Mann, halb Marke, sagte: "So denkt ein Skispringer nicht." Vor Kurzem haben sie im Hotel Weißflog eine Suite neu eingerichtet: mit Eichendielen, Lodenstoffen, Boxspringbett. Sie trägt den Namen "Chamonix". Es ist einer der wenigen Orte, an denen Jens Weißflog nur Zweiter wurde.

© SZ vom 08.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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