Reisebuch:Tunnelblick

Providence Rail Tunnel © Will Hunt

Im Providence Railroad Tunnel hat Will Hunt die Neugier gepackt auf die Welt unter Tage.

(Foto: Will Hunt)

Will Hunt begeistert sich für die Welt unter Tage: Als Urban Explorer interessieren ihn vor allem die Gänge unter Großstädten wie New York und Paris.

Rezension von Stefan Fischer

"Die Stadt und ich hatten jetzt gemeinsame Geheimnisse", schreibt Will Hunt, nachdem er sich zum ersten Mal in den Untergrund von New York aufgemacht hatte. Der 1984 geborene Journalist ist in Providence, Rhode Island aufgewachsen, eine Autostunde von New York entfernt. Dort hat ihn ein Eisenbahntunnel angefixt, die Welt unter Tage zu erforschen. Als Will Hunt zum Studium nach New York gezogen ist, fühlte er sich zunächst unwohl in der Stadt, bekam kein Gespür für sie und fühlte sich deshalb verloren.

Erst als er sich der Urban-Explorer-Szene angeschlossen hatte, begann er, sich für die Stadt zu begeistern. Der West Side Tunnel unter dem Riverside Park, ebenfalls ein Eisenbahntunnel, war das erste Terrain, das Will Hunt mit Gleichgesinnten erkundet hat - eine Einsteigertour.

Im Verlauf von zehn Jahren sind die unterirdischen Erkundungen immer komplexer geworden, und Hunt hat einen immer genaueren Begriff bekommen von dieser Landschaft unter Tage, die, wie er selbst schreibt, "immer mehr Metapher als konkreter Ort" ist. Beides reflektiert er in seinem Buch "Im Untergrund": Will Hunt befasst sich zum einen mit der philosophischen, kulturgeschichtlichen und auch der spirituellen Dimension des Themas, mit all den Höllenimaginationen, Erdgeistermythen und den diversen Theorien vom Erdinneren inklusive einer zweiten menschlichen Spezies, die dort angeblich lebt. Auch hat er ein Faible für Kuriositäten, etwa die Geschichte des Engländers William Lyttle, der 40 Jahre lang damit beschäftigt war, ein Tunnelsystem unter seinem Haus zu graben.

Wer weiß, wo er lang muss, kann Paris komplett unterqueren

Vor allem aber ist "Im Untergrund" ein spannendes Reisebuch. Will Hunt führt einen zwar immer wieder auch an Orte, die für jedermann einigermaßen zugänglich sind, etwa in die Höhlenstädte Kappadokiens oder in die Höhlen auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán, in denen Zeugnisse der Mayakultur zu betrachten sind - beides inzwischen touristisch zugänglich. Vor allem aber scheut er sich nicht vor abenteuerlichen und teilweise nicht immer legalen Touren. So versucht er sich mit einer kleinen Truppe an einer kompletten Unterquerung von Paris. Die erste Hälfte der Strecke führt durch die Katakomben, die weit mehr sind als die Grabstätten, zu denen sie teilweise geworden sind im Lauf der Zeit - und die im 19. Jahrhundert eine offizielle Touristenattraktion waren. Die restliche Strecke führt durch die Kanalisation.

New York Subway © Steve Duncan

Ein Tunnel der New Yorker Subway. Dort sind vor allem nachts mehr Menschen unterwegs, als man vielleicht annehmen mag.

(Foto: Steve Duncan)

Ausgedehnte Wanderungen unternimmt Hunt auch im New Yorker U-Bahn-System. Dort stößt er auf ein Graffiti-Tagebuch: Der Künstler Revs hat es in die Tunnels gesprayt, 235 weißgetünchte Seiten, wenn man so will, auf die er Auszüge aus seinem Leben gesprüht hat. In New York lernt Hunt auch sogenannte Mole People kennen, Obdachlose, die unter der Erde leben - zum Teil seit Jahrzehnten.

Sowohl in Paris als auch in New York gibt es eine regelrechte Infrastruktur unter der Stadt, ausgestaltet von Menschen, die wie Hunt fasziniert sind von der Welt unter der Oberfläche, und die ein System geschaffen haben aus Geheimgängen und -botschaften. Für die meisten Leser dürften das weiße Flecken auf der Landkarte sein. Auch das ist übrigens ein Thema bei Hunt: die Schwierigkeit, die Welt unter der Erdoberfläche zu kartografieren.

Will Hunt: Im Untergrund. Expedition ins Reich der Erde. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2021. 320 Seiten, 24 Euro.

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