Wilde Heimat Deutschland:Nur gucken, nie anfassen!

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Ein sechs Wochen altes Robbenbaby in der Seehundstation Friedrichskoog an der Nordsee. (Foto: dpa)

Im Frühsommer werden viele junge Robben im Wattenmeer angeschwemmt. Hier zeigt sich, wie rau die Nordsee sein kann. Unterwegs mit einem Seehundjäger, der Heuler retten will - aber nicht alle.

Von Charlotte Frank

Weit wie der Himmel liegt das Watt vor dem Leuchtturm von Westerhever, weit und wie der Himmel nur von der Nordsee begrenzt, die am Horizont in der Junisonne schimmert. Westerheversand sieht an Tagen wie diesen aus wie ein nicht enden wollender Inselstrand, so lang und gedehnt hebt sich die Sandbank aus dem Watt vor der Halbinsel Eiderstedt.

Irgendwo hier muss er liegen.

Aber irgendwo hier in der Weite, das kann überall sein. Karl-Heinz Hildebrandt sucht mit seinem Fernglas die Südspitze der Sandbank ab, gleitet über loses Strandgut, über zerrupfte Fischernetze und Treibholz, das in märchenhaften Verrenkungen aus dem Boden ragt. Zuletzt lässt er den Blick durch die Brandung wandern. "Vielleicht hat die Flut ihn schon mitgenommen", sagt er.

Vielleicht kämpft er gerade mit letzter Kraft gegen die Strömung. Vielleicht wird er auf See sterben. "Das ist dann eben die Natur", sagt Hildebrandt und steckt das Fernglas wieder ein.

Die Natur im Wattenmeer ist rau und rücksichtslos. Selbst zu denen, die in ihm leben. Deshalb ist Karl-Heinz Hildebrandt an diesem Morgen Ende Juni unterwegs, mitten in der Heulersaison. Niemals sonst im Jahr kegelt das Meer so viele verlorene Seehundjunge an die Küsten der Nordsee wie zu dieser Zeit. Niemals sonst hat Karl-Heinz Hildebrandt so viel zu tun.

Er ist Seehundjäger, verantwortlich für den Schutz der Tiere auf und vor der Halbinsel Eiderstedt. Eine Art Cowboy im Watt. Im wildesten, artenreichsten Naturraum, den es in Deutschland gibt. Nur im Regenwald leben noch mehr Arten zusammen.

Aber Wildnis stellt man sich anders vor, voller Tiergebrüll und wuchernder Pflanzen und Widrigkeiten im Weg. Nicht so wie hier, wie ein sonniges Inselufer, an dem das einzige Geräusch das Heulen des Windes ist und mal das Knacken eines Krebspanzers unter den Füßen oder ein Blubbern aus dem Sand. "Theodor Storm hat mal was Schönes über dieses Geräusch geschrieben", sagt Karl-Heinz Hildebrandt, als es unter seinen Schritten leise gurgelt, aber was genau, fällt ihm in diesem Moment nicht ein.

"Ich höre des gärenden Schlammes geheimnisvollen Ton/ einsames Vogelrufen, so war es immer schon", geht der Reim von Storm, aus dem Gedicht "Meeresstrand". Darin ist auch viel von Möwen und Dämmerung und Abendschein über feuchten Watten die Rede, und alles klingt so friedlich und schön, wie sich die Menschen diese Landschaft an einem sommerlichen Sonnentag wie diesem, noch dazu bei Niedrigwasser, gerne vorstellen.

Aber der Schein trügt. Selten wird das so deutlich wie an jenen Sonnentagen im Juni, an denen das Meer den Seehunden ihre Jungen raubt und am Strand wieder ausspuckt. Selten hält das Wattenmeer dem Menschen seine Wildheit so schonungslos vor Augen wie in der Heulersaison.

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Karl-Heinz Hildebrandt geht weiter, zwischen den Zehen drückt sich der warme Boden hindurch, als laufe man barfuß durch Kuchenteig. Tatsächlich wühlen die Füße gerade eine kaum vorstellbare Bevölkerungsdichte auf: Unter einem Quadratmeter Watt leben bis zu zwei Millionen Organismen. Etwa 250 von ihnen kommen nur hier vor, man findet sie in keinem anderen Gebiet der Welt.

Eine junge Kegelrobbe liegt auf der sogenannten Düne vor Helgoland. (Foto: Rainer Jensen/dpa)

Das Wattenmeer steckt voller Auszeichnungen und Rekorde, es ist Weltnaturerbe und Biosphärenreservat, und es ist das vogelreichste Gebiet Europas. Allein sein schleswig-holsteinischer Teil wird im Frühjahr und Spätsommer von mehr als zwei Millionen Vögeln bevölkert. Insgesamt leben im Ökosystem Wattenmeer 10.000 verschiedene Arten - vom einzelligen Kleinstorganismus bis zur Kegelrobbe, dem größten Raubtier Deutschlands. Gleich darauf folgt der Seehund.

Plötzlich bleibt Hildebrandt stehen. "Da haben wir ihn ja", sagt er. In der Ferne ist nur ein sandfarbener, regungsloser Knubbel zu erkennen. Könnte auch ein toter Ast sein. Der Seehundjäger geht in die Knie, stößt ein Bellen aus. Der tote Ast bewegt sich. Davor flitzt ein aufgeschreckter Wattläufer mit einem empörten Schrei davon.

Es wäre peinlich, vor einem wie Karl-Heinz Hildebrandt jetzt loszuquietschen. Einem, der zwar die Sprache der Seehunde verstehen kann, aber nicht die Stadtmenschen und ihre Hysterie, sobald sie einen Heuler sehen. Es werden von Jahr zu Jahr mehr - weil auch der Seehundbestand in der Nordsee von Jahr zu Jahr wächst.

Seit 1974 werden die Tiere in Schleswig-Holstein nicht mehr bejagt, damals gab es dort nur noch 1500 von ihnen - und von damals kommt auch der Name, "Seehundjäger", der klingt, als würden Männer mit angeschlagener Flinte durchs Watt pirschen und Seehunde schießen.

Das Gegenteil ist der Fall: Auch aufgrund der ehrenamtlichen Arbeit der 27 Jäger leben heute 12.000 Seehunde im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer - trotz zweier Staupe-Epidemien in den Jahren 1988 und 2002. Im gesamten Watt zwischen Dänemark und den Niederlanden wird der Bestand auf 38.500 Tiere geschätzt. Im Mai und Juni gebären sie ihre Jungen.

"Wir erklären jedes Jahr wieder, dass Touristen Abstand halten, ihre Hunde anleinen und die Heuler nicht anfassen sollen", sagt Karl-Heinz Hildebrandt. Die Nationalparkverwaltung ruft dazu auf, die Heuler zurückzulassen und auf dem Festland einen Seehundjäger oder Mitarbeiter des Nationalparks zu informieren. Trotzdem, sagt Hildebrandt, bringen sich Gäste immer wieder in Gefahr, weil sie trotz auflaufenden Wassers glauben, bei dem Tier bleiben zu müssen.

Er musste schon oft ausrücken, um vermeintliche Heuler-Retter zu retten: Menschen, die schon von der Flut eingeschlossen waren oder im dichten Nebel bei einem Tier ausharrten. "Es ist viel zu verführerisch, überall mal Ei zu machen", sagt Hildebrandt.

Es ist dann wirklich verführerisch: Der Heuler liegt auf dem Rücken, die Vorderflossen nach links und rechts gestreckt, als würde er sich sonnen. Auf den Ruf des Seehundjägers hin hebt er den Kopf, der voller Sand ist, und öffnet verschlafen die Augen, tiefschwarz und kugelrund und so groß, dass der Stadtmensch natürlich sofort wild entschlossen zur Rettung des hilflosen, flauschigen Wesens schreiten will.

Karl-Heinz Hildebrandt bleibt ruhig. "Wir nehmen nur Tiere mit, die überlebensfähig sind", sagt er. Selbst dieser Eingriff in die Natur ist für ihn nicht unproblematisch.

"Eigentlich sollte sich die Seehundpopulation im Ökosystem des Nationalparks selbst regeln", sagt er. Hauptberuflich ist Hildebrandt Nationalpark-Ranger, Naturschützer also, in einem Gebiet, in dem die Natur sich selbst überlassen sein sollte. Im Nationalpark Wattenmeer gehen sie also einen Mittelweg zwischen Naturschutz und Tierschutz: Nur gesunde Heuler werden aufgepäppelt, schwerkranke oder zu schwache Jungen werden nicht in die Seehundstation nach Friedrichskoog gebracht. "In der Natur gibt es ja auch keine Spritzen und Pflaster", sagt Hildebrandt.

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In der Natur stoßen Mütter ihr Junges ab, wenn es bei der Geburt nicht überlebensfähig ist. Die verlassenen Tiere werden dann von der Flut an Land getragen. Es kommt auch vor, dass Muttertiere bei der Geburt sterben, sodass die Jungen alleine durchs Wasser treiben.

Besonders viele Heuler gibt es nach Stürmen oder hohen Fluten, wenn die Seehundbänke überschwemmt werden und das Meer die Jungen mitreißt. Oder wenn die Strömungen so stark werden, dass das Seehundjunge vom Muttertier getrennt wird. Die Heuler, die sich allein von Milch ernähren, können nur wenige Tage überleben.

Natürlich hat sich der Heuler vor Hildebrandt im Watt nicht gesonnt. Er liegt einfach vollkommen entkräftet da - aber, das erkennt Hildebrandt aus der Entfernung, noch in einem gesunden Zustand, nicht zu stark abgemagert. Der Seehundjäger stellt die Plastikkiste ab, die er auf seinen Zügen durchs Watt immer dabei hat, und pirscht sich an das Tier heran.

Mit Brummstimme spricht er auf den Heuler ein. Der robbt erst auf Hildebrandt zu - aber als der ihn hochheben will, aalt er sich und schnappt. Hildebrandt zuckt nicht einmal, sondern beginnt in aller Ruhe, das Zahnfleisch des Heulers zu untersuchen, die Augen, die Krallen, das Geschlecht. "Aha, Du bist ein kleines Mädchen", sagt er.

Am Zustand des Nabels sieht er, dass das Mädchen eine Woche alt sein muss. Er misst es mit dem Zollstock: 81 Zentimeter. Das ist in Ordnung. Er kann das Tier mitnehmen.

Eine Wattwanderung von mehr als einer Stunde liegt vor Karl-Heinz Hildebrandt, von hinten wälzt sich die Flut auf die Sandbank, von den Seiten drückt sich das Wasser in die Priele. Die Landschaft verändert sich von Minute zu Minute, das Wasser verwischt die Fußspuren im Sand, der Rückweg verschwimmt.

"Wir müssen nicht laufen", sagt Karl-Heinz Hildebrandt nur. Er geht in zielsicherer Schlangenlinie um die Strömungen herum auf die Salzwiesen zu. Auf einmal bückt er sich, er hat eine Europäische Auster entdeckt, schwarz wie Kohle liegt sie im Watt. "Das ist etwas Besonderes", sagt er, die Europäische Auster sei lange ausgestorben. Das Tier, von dem die Schale in seiner Hand stammt, müsse vor hundert Jahren gelebt haben.

Hildebrandt hat es nicht eilig, er sammelt noch einen glatten Schäferstock ein, für seinen Nachbarn, schwingt ihn beim Gehen entspannt wie einen Wanderstab.

Vor ihm an Land reckt sich der Leuchtturm von Westerhever ins Blaue. Am Himmel stehen Schäfchenwolken, klein und so kurz, als hätte jemand Papierschnipsel in die Luft geworfen. In der Plastikbox schnauft und tobt der kleine Seehund.

Er kommt jetzt nach Friedrichskoog, in die Seehundstation, wo er gepflegt und aufgezogen wird. Er wird dann, so bald es geht, wieder ausgewildert. Er wird leben.

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Informationen

Anfahrt: Mit der Bahn ab Hamburg-Altona nach Husum, von dort mit dem Bus (Linie 1073) bis Westerhever Leuchtturm. Mit dem Auto über die A23 bis Tönning, weiter auf B202.

Information: Nationalpark-Seminarhaus im Leuchtturm Westerhever: www.schutzstation-wattenmeer.de/unsere-stationen/westerhever oder Nationalparkzentrum Multimar Wattforum, Dithmarscher Str. 6a, 25832 Tönning; www.multimar-wattforum.de; Öffnungszeiten April bis Oktober täglich 9 bis 18 Uhr. Eintritt: Erwachsene 9 Euro, Kinder 6 Euro.

Seehunde aus der Nähe: Seehundstation Friedrichskoog, an der Seeschleuse 4, 25718 Friedrichskoog; www.seehundstation-friedrichskoog.de. Heulerfütterung täglich 9, 12.30 und 16.30 Uhr. Eintritt Erwachsene 13,20 Euro, Kinder 8,80 Euro.

Fahrten zu den Seehundbänken: mit den Nationalparkpartnern Reederei Rahder ab Büsum (www.rahder.de) oder Adler-Schiffe ab Nordstrand oder Tönning (www.adler-schiffe.de).

© SZ vom 04.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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