Wien:Mit Charme in den Kaffee gespuckt

Eine Mischung aus Höflichkeit und Bösartigkeit prägt den Wiener Dienstleistungssektor seit der Habsburgermonarchie.

M. Amanshauser

"Wir wollen schließen. Würden Sie bitte den Kaffee austrinken?" Bei diesen Sätzen eines Wiener Kellners handelt es sich nur scheinbar um einen Ausdruck seiner Höflichkeit.

In Wirklichkeit sind es Befehle - wie man sie in dieser Stadt von Dienstleistenden regelmäßig erhält.

"Könnten Sie den Sessel näher zur Wand rücken, ich muss hier durch", sagt der Kellner, auch wenn der Platz für ihn ausreicht. Er steckt seinen Machtbereich ab, Feinden oder Gästen lässt er keinen Zentimeter, gegebenenfalls würde er feuerpolizeiliche Notwendigkeiten ins Spiel bringen.

Wenn ihm etwas an Ihnen oder Ihrem Verhalten nicht passt, wird er Sie als Person möglichst ignorieren.

Dass er Ihnen, wenn Sie auf Ihre Gastrechte pochen, im Hintergrund in den Kaffee spuckt, bevor er ihn schaumig rührt, ist vermutlich nur ein übles Gerücht.

Die Mischung aus Höflichkeit und Bösartigkeit prägt den ostösterreichischen Dienstleistungssektor seit der Habsburgermonarchie. Das florierende Wien Ende des 19. Jahrhunderts war voll mit Dienstleistungsjobs. Für so manchen einheimischen Kellner muss es eine Qual gewesen sein, dem - sagen wir - wohlhabenden Tschechen, Vertreter eines Minderheitenvolks, einen Kaffee zu bringen oder den Koffer zu schleppen.

Gegen diese Demütigung musste man sich eine kulturelle Ausdrucksform zurechtlegen, ein subtiles System, das bis in die Tiefen der Sprache und der Gestik reichte, und mit dessen Hilfe man den Kunden vermittelte: Ich bin zwar der Diener, aber du bist der Bittsteller.

Anderswo wurde mit Geld bestochen - in Wien bestach und besticht man mit der Akzeptanz der Formen. Denn wer das Spiel beherrscht, wer es schafft, dem Taxifahrer, Friseur oder Schaffner das Gefühl zu geben, dieser sei in Wahrheit der Chef, wird letztlich mit einer fast kriecherischen Liebenswürdigkeit belohnt, die das Verhältnis wieder herstellt: "Selbstverständlich, Herr Doktor Amanshauser!"

Über die Herkunft des Wiener Grant

Neulich ließ ich in Wien einen Reisepass für mein drei Monate altes Baby ausstellen. "Wollen Sie einen Pass für alle Staaten der Welt, oder für Amerika auch?", fragte die Polizeibeamtin.

Ich fühlte, dass ich jetzt keinen Fehler begehen durfte. Nur nicht die Frau auf ihre Unlogik hinweisen - unbedingt wienerisch-diplomatisch bleiben. "Was wäre denn der Unterschied?", fragte ich.

"Na, der eine Pass ist mit Chip, der andere ohne", belehrte sie mich in einem Tonfall, als wüsste das jeder außer mir. (Hätte ich nun gefragt: "Und, braucht ein Baby einen Chip?", hätte sie seufzend geantwortet: "Das frage ich Sie ja gerade.") "Gibt's denn noch Pässe ohne Chip?", fragte ich. Sie antwortete: "Würde ich Ihnen nicht empfehlen."

Damit war die Sache klar, die Beamtin konnte amtshandeln, die Würde beider Seiten war gerettet.

Der Wiener Dienstleister ist grantig - ein Wort, dessen Herkunft sich auf die düsteren Gesichter der spanischen Habsburger Granden zurückführen lässt, die einst depressiv durch das winterliche Wien spazierten und sich nach dem warmen Kastilien sehnten.

"Die schauen aber grandig drein", ätzten die Wiener hinter dem Rücken der Granden.

Der Grant, den sich der Wiener damals abgeschaut hat, diente seinem Selbstschutz und ist bis heute die vorherrschende Daseinsform, so lange jedenfalls, bis sie in freundliche Unterwürfigkeit umschlägt.

Mit der Frage "Was haben Sie diesmal falsch gemacht?", motivierte mich die Schwester in der Geburtsklinik bei den ersten Wickelversuchen. "Denken Sie nach!"

Unter dem Einfluss dieser an überlieferten oralen Floskeln orientierten Herrsch- und Dienkultur leidet jeder, der längere Zeit in Wien verbracht hat, ob er das will oder nicht. Im Ausland wird uns dann der Spiegel vorgehalten, und mit Schrecken erkennen wir, dass der Bodensatz des Wiener Charakters in jedem von uns angelegt ist.

Einer meiner Freunde beobachtete in Berlin, wie einer Frau die Mütze zu Boden fiel. "Entschuldigen Sie", rief er ihr nach, "Sie haben Ihre Haube verloren!" Die Berlinerin hob sie auf, nickte kurz und anerkennend, und meinte: "Sie brauchen sich aber wirklich nicht zu entschuldigen, wenn ich etwas verliere."

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