Wien:Es lebe der Zentralbahnhof!

Wien will seine monumentalen Kopfbahnhöfe abschaffen - und wird damit zur Durchgangsstation im veränderten Europa.

Michael Frank

Das Imperium hat noch fast 90 Jahre durchgehalten. Zumindest verkehrstechnisch. Nach dem Untergang des Habsburgerreiches im Jahre 1918 macht erst heute seine einstige Hauptstadt Wien mit einer seiner letzten monumentalen Hinterlassenschaft Schluss: Die Kopfbahnhöfe der Stadt sollen verschwinden.

Wien: Die Zukunft: Ein moderner Durchgangsbahnhof mit Einkaufspassagen, Bürohochhäusern und Glasdach.

Die Zukunft: Ein moderner Durchgangsbahnhof mit Einkaufspassagen, Bürohochhäusern und Glasdach.

(Foto: Foto: ÖBB)

Die Sachwalter von Stadt, Republik und Österreichischen Bundesbahnen haben den ersten Spatenstich für einen Wiener Zentralbahnhof gemacht. Sinnfälliger kann der Wandel in der Funktion eines geographischen Punktes und die neue Rolle eines Gemeinwesens kaum dokumentiert werden. Der Mittelpunkt ist - auch - zur Durchgangsstation geworden.

Hier endete alles oder begann alles: Sie alle waren als Kopf- oder Sackbahnhöfe angelegt, bei denen schon rein technisch kein Durchfahren möglich ist. Damit ist jetzt Schluss. Wien ist zwar nach wie vor ein beliebtes Ziel, aber hauptsächlich rauscht der Verkehr durch die Stadt durch - auf den großen Magistralen von Warschau nach Venedig, von München nach Budapest, von Zürich nach Kiew, von Berlin und Prag nach Slowenien und Italien.

Wien, die einstige, gänzlich unumstrittene Metropole Mitteleuropas, war Anfang und Ende zugleich, war Ausgangspunkt allen Handels und Wandels und deren Endstation. Die Kaiserstadt empfing die Welt und entsandte ihre Emissäre in alle Welt. Durchgangsverkehr? Undenkbar. Deshalb endeten in Wien alle Züge oder wurden hier eingesetzt, in so entlegene Gegenden wie Triest, Krakau, Bukarest, Lemberg, Kaschau und Debrecen. Die Zugreise bis zu manchem dieser Ziele dauert heute so lang wie damals. Symbol dieser absoluten Metropole waren ihre Bahnhöfe.

Die Verkehrsströme sind so angeschwollen, die Prognosen sind so gewaltig, dass die Wiener Endpunktsituation zum Ärger- und Hindernis geworden ist. Seit Jahrzehnten hat man diskutiert und gestritten. Jetzt steht es fest: Nahe des Südtirolerplatzes zwischen den Stadtteilen Wieden und Favoriten wird der zentrale Durchgangsbahnhof entstehen.

Allein die Infrastruktur der neuen Hauptstation wird 890 Millionen Euro kosten. Mehr als einhundert Meter hohe Wolkenkratzer und ein gewaltiges, in den Bahnhof integriertes Einkaufszentrum sollen einen neuen Mittelpunkt der Stadt bilden.

Es lebe der Zentralbahnhof!

Immerhin fährt hier bereits die alte U-Bahnlinie 1 vorbei, die aber nach Ansicht der Planer als Zubringer nicht reichen wird. Denn die Zukunftsprognosen für den Personenverkehr schwanken zwischen realistischen 45000 Menschen pro Tag und phantastischen 140000. Viele von den Reisenden aber werden gar nicht aussteigen.

Wien: Die Vergangenheit: Der Wiener Nordbahnhof, erbaut 1858 bis 1865

Die Vergangenheit: Der Wiener Nordbahnhof, erbaut 1858 bis 1865

(Foto: Foto: Ullstein)

Österreichs Bundesbahnen (ÖBB) sind dabei, die großen Strecken im Lande mit hohem Aufwand auszubauen. Zwar, so heißt es, werde das Alpenland wegen des schwierigen Geländes nie ein Hochgeschwindigkeitsland. Aber gen Westen, nach Innsbruck oder Bregenz, haben sich die Fahrzeiten schon erstaunlich verkürzt. Die Westbahn wird durch einen gewaltigen Tunnel unter dem Wienerwald und dem Lainzer Tiergarten hindurch in den neuen Bahnhof am Südrand der City geleitet.

Früher endete die Strecke im heute schon ziemlich heruntergekommenen und engen Westbahnhof. Dessen großer Hallenbau wird als Architekturdenkmal, sicher aber nicht als Verkehrsknoten überleben. Die Einfahrt in den Westbahnhof und die anschließende große Kurve über ein wackliges Umgehungsgleis auf die Süd- und Ostbahn kostete bislang mehr als eine Dreiviertelstunde Fahrzeit.

Es gab Zeiten, da funktionierte nicht einmal dieses Bahngleis der Südumgehung. Da stiegen die Reisenden beim Westbahnhof auf die Straßenbahnen oder ins Taxi um, um zum Südostbahnhof zu kommen für die Weiterreise nach Kaschau, Lemberg, Kiew, oder auch nur nach Bruck an der Leitha, an den Semmering oder den Neusiedlersee.

Schon kleine Verspätungen hatten für Weitreisende oft die missliche Folge, dass man eine unvorhergesehene Übernachtung einlegen musste. Noch heute ist das nicht selten, weil man bei späten Zügen zum Umsteigen nicht einfach das Gleis wechseln kann, sondern zu einem kilometerweit entfernten Bahnhof gelangen muss.

Der neue Zentralbahnhof liegt in der Nähe des alten Südbahnhofs, dessen ungemein schäbiger Bau mit dem venezianischen Marcus-Löwen in der Halle - hier gingen und gehen die Züge nach Norditalien ab - einen der kuriosesten Bahnhöfe der Welt bildet, einen Doppelkopfbahnhof: Es sind in Wahrheit zwei Bahnhöfe, im beinahe rechten Winkel sind die Enden von Südbahn und Ostbahn angeordnet.

Hier wird man auch die alte Nordbahn von Brünn und Prag einspeisen. Als einziger Kopfbahnhof wird der nördlich gelegene Franz-Josefs-Bahnhof bleiben. Seit der legendäre Vindobona, der ,,politische'' Zug zwischen Wien und dem einstigen DDR-amtlichen Ostberliner Zentralbahnhof Lichtenberg, hier nicht mehr einläuft und über Prag und Brünn geführt wird, hat die Franz-Josefs-Bahn nur noch regionale Bedeutung.

Heute noch sind die Mythen der Wiener Zugmisere beliebte Bestandteile von Reiseberichten und Stadtplanerklagen. Nicht mehr lange. Der Bau des neuen Wiener Zentralbahnhofs - 2013 soll er in Betrieb gehen - ist der mit Händen zu greifende, auf Schienen verlegte Wandel der Zeiten. Das austro-ungarische Imperium hat sein letztes Recht verloren, nämlich zumindest verkehrstechnisch Anfang und Ende allen Reisens in Mitteleuropa zu sein.

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