Wien:Die Verpraterung des Naschmarktes

Der Wiener Naschmarkt ist ein aromatisches Weltwunder. Nun droht er zur Event-Zone zu verkommen.

Michael Frank

Die Sache mit der Krümmung der Gurken war gar nicht so töricht. Vor kurzem hat die EU die vielbelachten Gemüse-Vorschriften aufgehoben, Ausdruck des Brüsseler Regulierungswahns, wobei die über den Krümmungsradius von Salatgurken als die groteskeste galt.

naschmarkt wien, pixelio

Der Wiener Naschmarkt ist ein Biotop - ein gefährdetes allerdings.

(Foto: Foto: pixelio)

Der Leiter der Marktabteilung der Stadt Wien war allerdings von der EU-Norm überzeugt: "Viele ganz krumme Sorten, die es früher gab, waren bitter." Bittere Gurken zu verhindern sei der Sinn der Verordnung gewesen, erklärt Andreas Weber. Amtsrat Weber ist schon seit Jahrzehnten mit Lebensmitteln befasst, hat einige von Wiens 21 Märkten saniert und "regiert" seit einem Jahr den Naschmarkt, den - neben Münchens Viktualienmarkt - wohl buntesten und gesuchtesten Kleinhandelsplatz Mitteleuropas.

Der Naschmarkt lockt Zehntausende mit einem Hauch von Chaos, mit einer Brise ramponierter Altertümlichkeit. Nun soll er erneuert werden, denn im Jahr 2016 steht sein hundertjähriges Jubiläum an diesem Ort an. Früher lag er stadteinwärts vor der berühmten Secession. Als man die Wien, den zur Kloake verkommenen Fluss, dem die Hauptstadt ihren Namen verdankt, kurz nach 1900 zudeckte, verlegte man das Marktgeschehen auf die neue Platte, seither umtost von zwei der belebtesten Verkehrsadern.

Was für ein Geschiebe von Käufern und Schaulustigen durch eine rund 800 Meter lange, enge Budengasse, allesamt betört vom Duft der Gewürze, irritiert von Kebab-Dunst und Würstl-Dampf, verblüfft über die Vielfalt von Rüben, Knollen, Blattwerk und Obst, beflügelt von der Exotik der Früchte. Doch der Markt, auf dem so viele Sprachen gesprochen werden, wandelt sich radikal.

Manche Wiener fürchten um die skurrile Seele dieses Biotops und warnen vor der Ausweitung der Event-Zone. In einem der alten Stände spielt man bereits Bebop und Swing zum Prosecco. Rundum über der Straße nisten kuriose Etablissements, vergammelte Peepshows, archaische Wein- und Antiquitätenhändler, ein Kaffee-Kult-Club, ein Opernhaus.

Der verführerische Name kommt übrigens gar nicht vom Naschen. Einst holte man hier nur Milch, in der "Asch" oder "Aschen", einem Milcheimer aus Eschenholz. Mit dessen Verschwinden wandelte sich der "Aschen-Markt" im Volksmund zum Naschmarkt. Die alten Buden im seltsamen Neobiedermeier stehen unter Denkmalschutz. Nicht aber sein inneres Gefüge. 2006 wurden rigorose Regeln aufgehoben, wer wo was verkaufen dürfe. Seither verödet das Geschehen merklich.

Wie der Markt zur Fressmeile wird, lesen Sie auf Seite 2

Die Verpraterung des Naschmarktes

Schon immer gab es vorne, nahe der Secession, edle Ware zu Apothekenpreisen und ein paar Hundert Meter weiter Preiswertes in großen Margen. Ein Standler schimpft: "Heute gibt es nur noch teure erstklassige und teure schlechte Ware." Das Abbild der Klassengesellschaft, wo sich Arm und Reich gleichermaßen eindecken konnten, ist verblichen.

Doch ja, es gibt noch Preisunterschiede. Die imaginäre Barriere liegt ungefähr dort, wo kurz nach der Kettenbrückengasse die alte Marktkapelle steht, vor der ein alter slowakischer Zigeuner - er nennt sich selbst so - mit unnachahmlichen Lauten, die er für Singen hält, um ein paar Cent heischt. Die geschniegelten Herrschaften, die vorne beim Urbanek, dem ältesten Stand für Feinspitz und Snob, im Stehen verzückt Wein schlürfen, sind meist noch nie über diesen Marktäquator hinausgekommen.

Einst reiner Obst-, Gemüse-, Käse-, Fleischmarkt, stülpt sich nun eine gastronomische Fressmeile aus. Wo früher fürs Kochen eingekauft wurde, wird heute gekocht und gleich gegessen. Bevor sich der Markt als "Nahversorger" ganz auflöst, hat das Marktamt verfügt: Höchstens ein Drittel aller Unternehmen dürfen Fressbuden sein.

Sushi neben dem Inder, Kebab-Brater neben dem Wok-Artisten, vom türkischen Fischwirt bis zum urigen Einheimischen. Das pittoreske Wirtshaus "Zur Eisernen Zeit" ist das älteste am Platz, mit böhmischem Bier, Urwiener Küche und Charakteren gleichen Kalibers.

Alteingesessen ist auch die "Palatschinkenkuchl", in der man fast 80 Varianten dieser Pfannkuchen bäckt, süß oder herzhaft. Das Traditionshaus wird - in Wien nicht untypisch - von studierten jungen Leuten aus Bulgarien betrieben, von Vera Naydenova und Martin Stoev. Er ist längst eingebürgert, führt ein brillantes Deutsch auf der Zunge und einen "Schmäh", dessen ein normaler Wiener kaum fähig wäre.

Stoev sagt: "Wir beobachten gerade die Verpraterung des Naschmarktes" und erinnert an den großen Lunapark im Wiener Prater. Immer mehr Amusement, immer weniger Ware des täglichen Bedarfs. Man denkt immer noch unwillkürlich an einen Obst- und Gemüsemarkt - dabei gibt es hier nur mehr zwölf Händler solcher Naturalien, von 120 dort tätigen Firmen.

Stoevs Palatschinkenkuchl war einst fast allein hier als Speisestätte. "Wir überleben deshalb", sagt der Chef, "weil wir Dinge bieten, die so niemand anderer hat." Ein Prinzip, das dem Wiener Naschmarkt sonst allmählich verlorengeht. Für die Kuchl ist der stetig anschwellende Touristenstrom Segen, für Händler oft reiner Fluch. Zu viele gucken nur, freuen sich am bunten Angebot, die wenigsten kaufen. Was sollen die auch mit frischem Sauerkraut oder Krenwurzeln anfangen. Wo früher Familien Vorräte einholten, erstehen heute Fremdlinge ein Äpfelchen, zwei Bananen, eine Hand voll Nüsse.

Eine Art Biosupermarkt absorbiert allein zehn Stände: eine öde, kalte Kommerzstrecke mitten im sonst wuselnden Leben. Plötzlich verhökert man an sensibler Stelle überparfümierte Modeseifen, Touristenkram. Markt-Chef Andreas Weber windet sich: Man hätte das nach den neuen Bestimmungen gar nicht verhindern können. Und wenn, wäre auch er wohl wegen der touristischen Zukunft des Naschmarktes nicht eingeschritten.

Lesen Sie auf Seite 3: Vom Verschwinden der Krauterer

Die Verpraterung des Naschmarktes

Leidtragender ist ein daneben liegender Tempel der Düfte: Der Essigbrauer Gegenbauer bietet Aromakompositionen, auf die sich in der ganzen Welt nur wenige Könner verstehen. Hier zu probieren bedarf feinster Sinne: Balsamico von deliziösen Apfelsorten, von Quitte, Holunder und der Trockenbeerenauslese, Essig von speziellem Obst und Gemüse nebst duftendem Speiseöl.

Der Naschmarkt verkommt zur Nuss-Wüste. Und zur Steppe immer gleich konfektionierter mediterraner Antipasti. Odabai Mohammad Reza, ein studierter Architekt aus Persien, verkauft seit Jahrzehnten Nuss und Mandelkern in aberwitzigen Varianten (sogar geräuchert), Trockenobst, Tee, Gewürze aus seiner Heimat und exotischen Ländern. Er war lange der einzige am Ort. Heute bieten vielleicht 20 oder mehr Stände völlig identische Ware, nur, anders als bei Odabai, verdächtig bunt wegen der Farb- und Konservierungsstoffe.

Im Grün-Stand von Karl und Gabriele Kuczera wohnen Tradition und Neuerung gut zusammen. Vier Generationen der Familie hat der Markt gesehen. Der kleine Karl turnte hier schon als Winzling herum. Die Betreiber des ältesten Viktualienstands erspürten als erste den radikalen Wandel der Kochvorlieben: Hier gab es schon Rucola, als die in Wien noch als Unkraut galt; der Bärlauch war hier nie ausgestorben; Koriander, Sauerampfer, Kresse, asiatisches Basilikum - alles immer frisch geschnitten oder mit Wurzelstock.

Märchenhafte alte Apfelsorten wie die Ananasrenette duften in Körben. Und von den Kürbissen haben die Kuczeras dies Jahr rund zehn Tonnen verkauft. Nur, "die normalen Sorten verschwinden, heute gehen nur noch Butternuss, Hokaido und Muskat".

Unbeirrt in der Tradition steht auch das winzige Lädchen der Erika Gruber mit Fleisch aus dem Waldviertel. Beiried und Ochsenschlepp, so zart so zart. In der Vitrine bezeugen Weide-Fotos das grüne Glück von Ochs, Kalb und Kuh, bevor sie hier zerlegt werden. Die Gruberin verkauft daneben alles von der Mangalitza-Sau. Das beinahe ausgestorbene, schmackhafte, fette ungarische Wollschwein lieferte einst auch den Stoff für die Feldmützen der k.u.k.-Armee.

Monument einer untergehenden Kultur ist Leo Strmiska mit seinem Sauerkraut. Einst gab es 200 "Krauterer" in Wien, heute noch vier. Strmiska verkaufte früher vom frischen Sauerkraut zwei seiner gewaltigen Holzbottiche à 200 Kilo pro Tag, heute gerade mal 50 Kilo. "Die Frauen können nicht mehr kochen," sagt Strmiska. Ein schönes Szegediner Krautfleisch? "Mit nur 300 Gramm Kraut wird das nichts. Aber das weiß keiner mehr."

An manchem Tag heute ist die Nachfrage null. Touristen bewundern den blonden Hünen mit dem unnachahmlichen Wiener Maulwerk. Er weiß den Damen die aphrodisische Wirkung des Krauts zu preisen, raunt den Herren die neusten Verschwörungstheorien zu. Der Krauterer kann so wunderbar galant sein und so saugrob. Kaufen tun die Leut' aber meist nur eine Salzgurke.

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