Süddeutsche Zeitung

Weltreise:Nachhilfeunterricht

Ein Lehrer auf großer Klassenfahrt: Jan Kammann bereitet jugendliche Migranten auf ihren Schulabschluss vor. Dann nimmt er ein Sabbatical und reist in die vielen Länder, aus denen seine Schüler stammen.

Von Monika Maier-Albang

Wenn Lehrer reisen, so will es zumindest das bayerische Vorurteil, trifft man sie in der Toskana an. Oder am Gardasee, in Südtirol beim Wandern, vielleicht auch, wenn sie sich für humanistische Bildung interessieren, in den Uffizien, auf der Akropolis oder in Pompeji. Jan Kammann lehrt in Hamburg, da ist der Gardasee weit. Und sein Horizont ist noch weiter. Kammann unterrichtet Englisch und Geografie in Internationalen Vorbereitungsklassen; seine Schüler hatten ein Jahr lang Deutschunterricht, sind jetzt in der zehnten Jahrgangsstufe und büffeln für den Schulabschluss. Warum nicht die Länder bereisen, aus denen sie kommen? Also hat der Lehrer sich ein Sabbatical genommen und ist mal eben losgefahren in die große, weite, interessante Welt.

Jan Kammann, so stellt man bei der Lektüre des Buchs "Ein deutsches Klassenzimmer" fest, ist vermutlich ein guter, sicher ein engagierter Lehrer. Und er kann erzählen. Ein Reisender, der mit offenen Augen durch die Länder zieht, die er besucht. Ein Erzähler aber auch, dem es gelingt, Augen zu öffnen. Kammann ist unterwegs mit Neugierde und einem kritisch-wohlwollenden Blick auf die Gesellschaften, die er zu begreifen versucht, um so seine Schüler besser verstehen zu können. Gleichzeitig will er ihre Welt uns Daheimgebliebenen nahebringen. Das klappt erstaunlich gut, auch wenn's manchmal ein bisschen pathetisch wird: "Ach, Iran, Afghanistan und der Rest der Welt. Irgendwie müssen wir gemeinsam eine Lösung finden." Aber man liest da gern drüber weg, weil der Rest so interessant ist.

Bewertungsportale sind nicht notwendig. Die Schüler geben die besten Reisetipps

Ghana zum Beispiel. Ghana ist im Buch das letzte Land, in das Kammann aufbricht. Er hat da schon viele Erfahrungen gesammelt, was sicher von Vorteil ist, weil Ghana zu den schwierigeren Zielen auf seiner Klassenfahrt gehört. In Ungarn, Serbien, Bulgarien, Polen war er da schon, in Armenien, Iran, dem Kosovo, in China, Südkorea, Kuba, Nicaragua, Kolumbien und in der Mongolei. Letzteres einfach so, aus purer Lust und nicht, weil einer seiner Schüler von dort stammt. Ghana aber ist besonders, weil es den Menschen hier noch schlechter geht als in vielen anderen Ländern, in die der Lehrer reist. Kammann zieht durch die Hauptstadt Accra mit einer Sozialarbeiterin, die versucht, Kinder in die Schule zurückzuholen, weg vom Tagelöhnertum. Und er fährt, was nicht ganz ungefährlich ist, nach "Toxic City", an einen "apokalyptischen" Ort, in die "Hölle für Binnenflüchtlinge aus Ghana oder aus anderen Ländern Westafrikas", wie Kammann schreibt. Der Elektromüll unserer Wohlstandsgesellschaft - Computer, Fernseher, Kopierer - wird dort zerlegt. Was mit den Wertstoffen passiert, fragt der Lehrer einen Arbeiter. "You people get it back", lautet die Antwort. Nicht mal vom Müll der Reichen also profitiert das Land. Stattdessen, so schreibt Kammann nach einem Besuch bei Fischern, die mehr Plastikmüll in ihren Netzen finden als Fisch, bedienen sich die Wohlstandsnationen auch noch vor ihrer Küste.

Das Buch ist stellenweise moralschwer. Es geht viel um globale Wirtschaftswege, globale Ungerechtigkeit und Fluchtursachen. Aber, und natürlich gehören solche Alltagsbeschreibungen in jeden guten Reisebericht, auch um Fettstücke im mongolischen Eintopf, koreanischen Haemul Pajeon, Meeresfrüchte-Pfannkuchen, verschiedene Trinkgelage und den besten Late Macchiato, den man findet, wo man ihn nicht zu finden erwartet: in Pristina. Kammann folgt teilweise den liebevoll aufgeschriebenen oder gezeichneten Empfehlungen seiner Schüler. Er macht aber auch eigene Entdeckungen und lässt dabei die Fremden an sich heran. Karaoke mit Nassa und Timur in Ulan-Bator (Die Deutschen singen "Dschingis Kahn", etwas anderes fällt ihnen aus dem Stegreif nicht ein. Hu! Ha!), Wellenreiten mit Oliver in Nicaragua. Abendessen mit Abbas Barzegar, einem Iraner aus dem Zagros-Gebirge, der durch Touristen zu kleinem Wohlstand gekommen ist. All das wäre auch ein gutes Schulbuch, in dem die Schüler viel über den Lehrer erfahren. Kammann kann selbstironisch sein, und auf eine angenehme Art selbstkritisch. Er unterhält sich in Iran mit Emran, einem arbeitslosen Soziologen. Der kommt auf die Sozialtheorien Max Webers zu sprechen und auf Kant. Jan Kammann müsste sich nun am besten mit einem Gedicht von Hafis revanchieren, aber er kann es nicht. "Ich fühle mich sinnlos und oberflächlich", schreibt er. "Iran, du hast mich entlarvt."

In Ghana, am Ende der Reise, ist die Bilanz besser. Er kommt als "Obruni", als weißer Mann (wobei Kammann sich anfangs ob der ihn belagernden Kinder eher als "weißer Geldsack" oder schlicht als "Beute" betrachtet). Aber dann trifft er Sister Mary, die Sozialarbeiterin, ihre Kids, die Fischer, den Rapper und die Schrott verbrennenden "burnboys". Und darf am Ende mit Fug und Recht behaupten: "Ich bin kein Obruni mehr, ich bin ein Mitmensch."

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Quelle:
SZ vom 09.10.2018
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