Süddeutsche Zeitung

Wellness:Vom Leben auf dem Lande

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Wo ein "Zuagroaster" daheim ist

Von Peter Sartorius

Zunächst war der Umzug aus der Stadt ins Dorf lediglich eine Sache fürs Auge. Kein Wunder, hier am Alpenrand. Da ragen Herzogstand, Jochberg und Heimgarten, unsere Hausberge, so stolz aus der Ebene auf, als seien sie der Himalaya. Und da präsentiert sich die Benediktenwand in der Verkantung als ein gotischer Spitzbogen, der die Phantasie der Einheimischen anregt. Die Haube einer Mönchskutte erkennen sie in der Wand, zu einem Gottesmann gehörend, der zufrieden auf dem Rücken ruht.

Dürfen auch wir uns als Einheimische begreifen?

Vielleicht ist es so: Zwischen Einheimischen und Nicht-Einheimischen gibt es Platz für solche, die sich nur mehr oder weniger als Einheimische fühlen. Manchmal fühlen wir uns mehr, manchmal weniger als solche. Im Schwebezustand befinden wir uns, sind integriert, ohne richtig dazuzugehören. Wir sind herzlich aufgenommen. An der Haustür finden wir eine Tüte voller Zwetschgen und wissen sofort, woher sie stammt: vom Zwetschgenbaumbesitzer unten an der Straße, mit dem wir über Zwetschgen in natura und in destillierter Form gefachsimpelt hatten. Im Supermarkt - der eigentlich eine Bäckerei ist, aber als perfekt geführtes Kaufhaus auch alles andere Lebenswichtige anbietet - können wir ebenso das Fax-Gerät benutzen wie in der Schreinerei. Deren Werkstatttür ist nie verschlossen und wir brauchen nicht im Telefonbuch nach anderer Handwerkerhilfe zu suchen, die von den nächstgelegenen Weltstädten Murnau oder Penzberg anreisen müsste. Die Nachbarn sind talentiert und stets hilfsbereit, sofern sie nicht auf dem Feld sind, im fernen Krankenhaus Dienst tun oder im noch ferneren Gymnasium unterrichten.

Manchmal, wenn mein Blick hinüber zum Jochberg wandert, durch dessen Nordwand ich gern klettern würde, male ich mir aus, wie mich dann ein anderer unserer Nachbarn aus Bergnot retten würde. Er ist bei der Bergwacht. Aber eben deshalb würde ich nicht in die Wand gehen. Im Wirtshaus, im Supermarkt, auf der Dorfstraße müsste ich hinterher ein Spießrutenlaufen über mich ergehen lassen, als Einheimischer, der sich als Halbschuhtourist entlarvt. Wir sind also Einheimische. Und auch wieder nicht. In das Leben der wirklich Einheimischen, die uns nur "Zuagroaste" (so viel wie "Neu-Zugezogene") nennen, dringen wir wenig ein. Und wollen es auch nicht. Auch wenn wir, sensationssüchtig, doch gern Genaueres von den Dramen wissen würden, die es auch hier gibt, hinter den Fichtentüren. Vom Meuchelmord haben wir gehört, dessen Opfer der zuckerkranke Bauer wurde, den seine Lebensgefährtin regelmäßig mit einer Überdosis Erdbeertorte fütterte, selbst noch auf dem Sterbebett. Von manchem Hader wird geflüstert und vom Hass mancher Nachbarn untereinander haben wir erfahren. Einmal sind zwei von ihnen, ein Zugereister und eine Alteingesessene mit Axt und Gartenhacke aufeinander losgegangen, Sachsen gegen Bayern. Die Polizei machte ein Protokoll. Es war ein Großeinsatz, fast schon was für den Bullen von Tölz.

Wir fühlen uns wohl hier, wo es zugeht, fast wie im richtigen Leben. Längst ist der Umzug nicht mehr bloß eine Sache fürs Auge. Wir verstehen, ein bisschen, die Probleme der Bauern. Frühmorgens und spätabends sehen wir sie, wie sie mit dem Odel- Wagen ihr Parfüm versprühen. Keine Idylle ohne Gülle! Auf dem brach liegenden Baugrundstück vor unserem Balkon sehen wir die Kühe kalben und hören sie später im Stall tagelang klagend brüllen, wenn ihnen die Kälber weggenommen werden. Und noch etwas erkennen wir, nämlich dass das Land nicht, wie befürchtet, aussterben wird. Anders als in der Stadt wird in unserem Ort reichhaltig auch neues menschliches Leben aufgezogen. So leben wir zwischen Rindern und Kindern und freuen uns, dass es sie so reichlich gibt. Doch ja, wir fühlen uns als Einheimische und genießen es.

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