Süddeutsche Zeitung

Weihnachten in Medellin:Besinnlich ist es anderswo

Schrille Festbeleuchtung, Tanz und Musik, wohin man blickt: Die ehemalige kolumbianische Drogenhauptstadt Medellin ist heute ein Hort der Lebensfreude.

Eva Weber-Guskar

Der Busbahnhof bebt. Die breiten Treppen sind verstopft mit Menschen. Geschrei und Gejohle. Was ist los? Als Reisende in Südamerika ist man stets auf der Hut, neu in Kolumbien besonders. "Concierto", brummt einer aus der Gruppe schwarzer Musiker, die mit im Bus aus Cartagena saßen, und packt sich seinen Trompetenkoffer auf den Rücken.

Tatsächlich: Im tief gelegenen Zentrum des mehrstöckigen Busterminals steht eine kolumbianische Band und wird von einem riesigen Publikum frenetisch gefeiert. Lauter lachende Gesichter, Körper in ausgelassener Bewegung und auf Fragen der Fremden sofort die freundlichste Auskunft. Der vorauseilende Ruf wird deutlich bestätigt: In Medellin, heißt es, lebten die warmherzigsten Menschen der Welt. Und in Medellin liebe man Tanz und Musik.

Bis vor wenigen Jahren war die Stadt noch für ganz Anderes traurig berühmt: Die Drogenmafia unter dem Boss Pablo Escobar hatte bis in die 1980er Jahre Medellin zur Welthauptstadt des Kokain-Handels gemacht - mit allen bekannten Nebenwirkungen. Die Statistik verzeichnete damals in dieser Stadt die höchste Mordrate der Welt.

Eine der sichersten Städte des Landes

Jetzt gehört sie zu einer der sichersten des Landes, vergleichbar mit Großstädten der USA. Und Escobar hängt im Museum: Ein Mann in dunkler Hose und offenem weißen Hemd, eine Hand abwehrend vor sich, die andere mit einer Pistole über den Kopf gehalten, über Ziegeldächer fliehend, die Augen geschlossen, schon von Kugeln durchlöchert, - so hat den negativen Helden der Stadt Fernando Botero in Öl gemalt. Der international bekannte Künstler stammt aus Medellin.

Den großen Wandel hat ein zweiter berühmter Sohn der Stadt gebracht: Alvaro Uribe, Kolumbiens derzeitiger Präsident. Darüber sind sich zumindest hier alle einig, vom Busfahrer über den Hotelier bis zum Pfarrer. Tatsächlich haben sich besonders während der Jahre seiner Amtszeit die Verhältnisse in Medellin so verändert, dass man sich in den meisten Teilen der Stadt weitgehend unbehelligt bewegen kann.

Aus den dunklen Räumen des Museo de Antioquia tritt man hinaus in die helle Sonne und die laue Luft. Medellin ist die Stadt des ewigen Frühlings, eines warmen Frühlings von 23 Grad, der alle paar Tage einen kleinen Schauer bereit hält, um die Luft rein zu waschen. Eine klimatische Insel der Glückseligkeit in Kolumbien, zwischen den Extremen der feuchten Hitze an der Küste und der schneidenden Kälte in den hohen Anden.

Der Platz der Skultpturen vor dem Museum ist rege belebt. Zwischen den mächtigen, überlebensgroßen Bronzegestalten Boteros schieben Kaffee-Verkäufer ihre Wägelchen umher. Es sind selbstgebastelte Konstruktionen aus alten Einkaufs- oder Kinderwägen, vollbepackt mit Thermoskannen, Süßigkeiten oder klein geschnittenen Mangos in Plastikbechern. Sie wirken anachronistisch auf dem gepflegt begrünten Platz, zwischen den blanken, überwohl genährten Kunstfiguren und vor dem schicken Museumscafé, in dem der Kaffee das Zehnfache kostet.

Lesen Sie weiter über die allerorten sichtbaren Widersprüche in Medellin.

Aus solchen Widersprüchen besteht die ganze Stadt. Es gibt Hochhäuser, ehrgeizige, moderne Architektur für das Regierungsviertel oder den neuen Wissenschaftspark und eine der besten Universitäten des Landes. Und es gibt Männer vor kleinen Tischen mit Schreibmaschinen darauf. Am Rand des Platzes bieten sie "redaction general": Sie verfassen Briefe und jede Art von Text. Sie haben zu tun. Gerade steht ein Mann mit einem offiziellen Papier und seinem Pass vor einem Tischchen.

Man hört in ruhigeren Wohnvierteln Hufgeklapper auf der Straße, improvisierte Pferdefuhrwerke werden als Kleintransporter genutzt. Gleichzeitig besitzt die Drei-Millionen-Stadt das modernste öffentliche Verkehrssystem Kolumbiens: Medellin liegt auf 1500 Metern über dem Meeresspiegel, dabei in einem Tal zwischen vier Bergen, an deren Hängen sich die Stadt immer mehr ausbreitet. Seit gut zehn Jahren hat sie als einzige Stadt Kolumbiens eine Metro. Deren Netz wird seit vergangenem Jahr durch Seilbahnen erweitert.

Die Reichen im Tal, die Armen auf den Bergen

Die Gondeln dieser Seilbahn verbinden die besser situierten Stadtteile im Tal mit den armen auf den Bergen. Von der Ferne ist kaum ein Unterschied sichtbar. Die ganze Stadt ist in ziegelrot gehalten, ein farblich einheitliches Häusermeer, das sich vor dem Grün der bewaldeten Höhen abhebt. Doch aus den Kabinen, über die Häuser schwebend, sieht man es deutlich: die unfertigen Gebäude, das Wellblechdach, die Enge, den Schmutz.

Lange Zeit war Medellin Provinz gewesen, von spanischen Siedlern ab 1616 erbaut - ganz ohne Sklaven, was eine Besonderheit war und den Menschen heute noch den Ruf von ehrlicher Arbeitsamkeit und Selbständigkeit gibt. Außerdem erklärt dieser Umstand die für Kolumbien auffällige Hellhäutigkeit der Menschen.

Erst Anfang des 20. Jahrhunderts begann mit dem Boom der Kaffeeproduktion und später der Textilindustrie die Entwicklung der Provinzhauptstadt zu einer Metropole. Heute hat sie kein altes Stadtzentrum im Kolonialstil mehr.

Wer wissen will, wie die Stadt früher einmal ausgesehen hat, kann in das nahe gelegene Santa Fé de Antioquia fahren. In dem strahlend bunt bemalten Örtchen, das in der Hitze, auf 500 Höhenmetern gelegen, dahindöst, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.

Willkommene Besucher

Wenn Medellin nicht unbedingt durch das Äußere besticht, so doch umso mehr durch ihre Bewohner. Es ist, als wären sie lange von der Welt abgeschieden gewesen und als sehnten sie sich jetzt umso mehr nach Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern, besonders den USA und Europa. Besucher sind höchst willkommen und werden umsorgt.

Wo sonst hält einem der Vorgänger in der Telefonzelle nicht nur den Hörer hin, damit man seine übrigen Münzen vertelefonieren kann, sondern auch weiteres Geld, wenn man umständlich zu kramen beginnt? Wo sonst wird aus der Antwort auf eine kleine Auskunftsfrage eine eintägige kostenlose Stadtbesichtigung im Privatauto? Wo sonst nimmt eine Familie eine tropenkranke Touristin umstandslos für Wochen ins Haus auf und pflegt sie im Zimmer der kleinen Enkelin gesund?

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wann die Menschen in Medellin zur Hochform auflaufen.

In besonderer Hochform kann man die Menschen Medellins beim Feiern erleben, bei Tanz und Musik. Eigentlich jeden Abend irgendwo, aber eine Hauptzeit im Jahr ist dafür die Weihnachtszeit. Adventseinladungen beginnen um zehn Uhr abends, es wird bis in den Morgen getanzt und getrunken. Die ganze Stadt fiebert darauf hin: El Alumbrado, das ist die Weihnachtsbeleuchtung Medellins, in Kolumbien so bekannt und sprichwörtlich wie in Deutschland der Nürnberger Christkindlesmarkt.

Riesige, quietschbunte Lichter säumen den Fluss Medellin, der durch die Stadt fließt. Die großen Brücken, die hohen Lampen, Antennen und ähnliches - alles wird durch Leuchtbänder zu Figuren geformt. Überdimensionierte Tannenbäume, wilde Muster, die Krippe mit der heiligen Familie. Besinnlichkeit sucht man vergebens. Es geht um Großes, weithin Sichtbares, Vereinigendes. Jeder soll es sehen, sich dazugehörig fühlen und fröhlich sein.

Es bebt in der Calle 70, wo in einfachen Bars die Hüften geschwungen und der Rum in Flaschen bestellt wird. Genauso wie in der Zona Rosa, dem schicken Ausgehviertel im südlichen El Poblado, wo spät in der Nacht von Showtänzern in extremen Kostümen animiert wird.

Es ist ein Stelldichein perfekt zurechtgetrimmter Körper - hier lernt man glauben, dass Medellins Ärzte zur Weltspitze in plastischer Chirurgie gehören sollen. Am Morgen danach freilich sieht man wieder so viele beinamputierte Gestalten durch die Straßen humpeln, wie sonst wohl nirgends. Landminen der Guerrillas. Und für diese andere Seite der plastischen Chirurgie fehlt oft das Geld.

Tanzstunde im Wohnzimmer

Aber auch ein Wohnzimmer verwandelt sich schnell in eine Tanzfläche oder sogar in eine Tanzschule für Besucher - auch wenn die Nuancen Unterschied des Hüftschwenkens und -wackelns nicht auf Anhieb sichtbar, verständlich und damit lernbar sind: "So", sagt Anna-Jolanda, zu Salsa romantica - und "so", zum klassischen Salsa, und "so", wiederum zu Vallenato, der Musik von der Küste.

Ihr Vater war ein bekannter Vallenato Musiker Kolumbiens. Nachdem er verstorben ist, besuchen befreundete Künstler die Tochter nun regelmäßig. "Ich bin Chavez-Fan!", verkündet vom Sofa her mit lügenstrafendem Lachen Pablo, der Vallenato-Sänger aus Venezuela. Während die Länderchefs Chavez und Uribe auf schlechtem Fuß zueinander stehen, tanzen die Menschen miteinander. Pablo lässt seine Stimme dröhnen, dass in dem kleinen Zimmer fast die Wände zu bersten drohen.

Jedes Jahr am siebten Dezember entzünden alle lange Reihen von Kerzen vor den Häusern. Am Vorabend zu Maria Empfängnis wird in Kolumbien an die Geiseln der Guerrilla erinnert. Auch nach der Befreiung von Ingrid Betancour bleiben noch viele hundert andere verschleppt.

Im Flackern der Kerzen und unter dem verhaltenen Krachen des Feuerwerks, das man aus dem Zentrum bis in das Wohnviertel herüber hört, erzählt Mauricio von sich. Er ist Angestellter in einer großen Versicherungsgesellschaft. Dennoch hat er nebenher seit kurzem ein Zweitgeschäft, wie viele. Bei ihm ist es eine Eisdiele. So kann er sich Reisen finanzieren.

Er möchte unbedingt auch einmal nach Europa. Ob das Bild von Kolumbien in Europa wirklich so ein düsteres sei? Und ob man jetzt, wo man einmal hier war, in Europa anderes erzählen würde? Wer könnte da nein sagen! Und auch den hier typischen Abschiedsgruß "komm wieder!" hat man als Besucher Medellins nach drei Wochen längst verinnerlicht.

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Quelle:
SZ vom 24./25./26.12.2008
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