Süddeutsche Zeitung

Polen:Warschau feiert weltoffen

Kreative haben die polnische Hauptstadt als Spielwiese entdeckt. Sie lassen sich die Laune von der europakritischen Regierung nicht verderben.

Von Christian Mayer

Der Fluss ist das Ziel, und wer Warschau von der entspannten Seite kennenlernen will, muss sich nur einreihen und dem Strom der Großstädter folgen, die hinunter wollen zum Ufer. Noch bevor es dunkel wird, sind die Liegen, die Bar und das weiße Sonnendeck, das an ein gestrandetes Schiff erinnert, bevölkert von Urbanisten aus der ganzen Welt. Amerikaner, Spanier, Schweden, Chinesen und Deutsche feiern mit den Einheimischen, jeden Abend steht eine neue Attraktion auf dem Programm im "511 Pomost", dem populären Szenetreff am Weichselstrand. Tango und Swing, Improvisationstheater und Fußballabende wechseln ab mit Housepartys unterm Sternenhimmel. Oder sind das nur die Lichterketten, die quer über die Tanzfläche gespannt sind?

Egal, die Besucher haben jedenfalls das Gefühl, dass hier die Musik spielt. Und dass Warschau gerade die vibrierendste Stadt Europas ist, also ungefähr das, was Berlin vor zehn Jahren war: eine Spielfläche für junge Kreative, digitale Nomaden und Wochenendhedonisten, die gerne günstig wohnen und feiern wollen.

Es hat sich viel geändert in dieser aufstrebenden Metropole, die schon früher ein beliebtes Reiseziel war, allerdings vorwiegend für Besucher aus Osteuropa und Gelegenheitsgäste aus dem Westen. Wer früher von Warschau-Touristen eine Postkarte bekam, damals in den Achtzigerjahren, hatte das Gefühl, dass die Absender gerade eine Puppenstube besucht hatten. Fast alle Fotomotive aus Warschau zeigten die rekonstruierte Altstadt, die von den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg mit unvorstellbarer Gewalt plattgemacht worden war. Der Wiederaufbau der komplett zerstörten Altstadt war eine außergewöhnliche Leistung der Warschauer, architektonisch, psychologisch und auch ökonomisch. Schließlich lässt sich der mittelalterliche Stadtkern bis heute als Erfolgsgeschichte der von vielen Katastrophen gestählten Bewohner verkaufen.

Als alternatives Postkartenmotiv kam außerdem der Kulturpalast aus den Fünfzigerjahren in Betracht. Bis heute prägt der im Stil des sozialistischen Klassizismus errichtete Multifunktionsgigant mit einer Höhe von 237 Metern das Stadtbild, nur dass der Turm mittlerweile eingerahmt wird von einer Reihe spektakulärer Hochhäuser wie dem 52 Stockwerke fassenden Zlota 44, dem sündhaft teuren Wohngebäude des Architekten Daniel Libeskind, das wegen der schlanken Bogenform auch Segel genannt wird.

Das Leben spielt sich überwiegend draußen ab. Die Warschauer streben an die frische Luft

"Ach, der Kulturpalast", sagt die Literaturwissenschaftlerin Anita Borkowska, deren deutschsprachige Stadtführungen so unterhaltsam wie lehrreich sind. "Für viele gibt es überhaupt nur einen Ort in Warschau, wo man dieses Monster aushalten kann - und das ist oben auf der Dachterrasse. Weil man von dort aus die ganze Stadt sieht, nur nicht den Kulturpalast."

Ein sommerlicher Stadtbesuch in Warschau, das ist ein ständiger Schlagabtausch zwischen der Geschichte und der Gegenwart. Wobei sich das Leben hier überwiegend draußen abspielt, auch die Warschauer selbst streben bei fast jeder Gelegenheit an die frische Luft. Das alte Postkarten-Warschau, für das ikonische Figuren wie der Komponist Frédéric Chopin oder die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie stehen, hat seinen eigenen Charme, während das neue Warschau, das vor allem seit dem Bau des spektakulären Nationalstadions für die Fußball-EM 2012 entstanden ist, höher hinaus will. Das Stadion mit der mobilen Dachkonstruktion ist nun neben dem Kulturpalast der zweite zentrale Orientierungspunkt für ortsunkundige Besucher. Es thront höchst prominent auf der anderen Seite der Weichsel im Stadtteil Praga, dem alten Arbeiterviertel.

Wie man das alte und das neue Warschau unter einem Dach kombiniert, zeigt das Hotel Europejski. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts, als der polnische Staat nur noch als Idee in den Köpfen der Menschen existierte, war das an der Prachtstraße Krakowskie Przedmieście gelegene Gebäude im römischen Renaissancestil gesellschaftlicher Mittelpunkt für die Oberschicht, aber auch für Künstler und Literaten. Heute, nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, dem Wiederaufbau in den frühen Sechzigern und einer aufwendigen Renovierung in den vergangenen Jahren, soll das Hotel Europejski mehr denn je glänzen. Seit April 2018 führt die Raffles-Gruppe das Haus und wirbt mit dem Art-déco-Charme der 106 Zimmer und einer Fülle von Kunstwerken. Marmor und polnisches Eichenholz, eine Patisserie, Butlerservice und ein rekordverdächtiger Designerteppich, der sich durchs ganze Erdgeschoss zieht: Das Haus hat nicht zufällig einen bekannten Bühnenbildner der Staatsoper mit der Neugestaltung beauftragt.

Als Hotelbesucher hat man das Gefühl, das Drama dieser Stadt hautnah zu erleben: Von der 300 Quadratmeter großen Raffles-Suite blickt man direkt auf den Palast des polnischen Präsidenten, auf der anderen Seite des Gebäudes liegt der Piłsudski-Platz mit dem Sächsischen Garten und dem Grabmal des Unbekannten Soldaten, direkt daneben das Metropolitan-Rundgebäude des britischen Architekten Sir Norman Foster, ein Millenniumstraum in Glas und Stahl. Historie trifft Hightech: Auch das ist Warschau.

Ein Hotelprojekt wie das Europejski zeigt, wie sehr der Markt in Bewegung ist. Schließlich rechnen Branchenkenner fest damit, dass der Boom der Tourismusbranche in Warschau gerade erst begonnen hat. 13 000 Hotelzimmer gab es vor zwei Jahren in der Hauptstadt, bis 2019 sollen es schon fast 16 000 Zimmer sein. Ein Höhenflug, der selbst unter der europaskeptischen Regierung andauert: Die Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) steht unter ihrem Vorsitzenden Jarosław Kaczyński für eine nationalkonservative Wende, die allerdings nicht so ganz zur Warschauer Weltoffenheit passen will.

In der historischen Wodkafabrik Koneser im Stadtteil Praga gehört Weltoffenheit zum Marketing. Schließlich will man mit einem mehr als 120 Millionen Euro teuren Bauprojekt internationale Firmen und Wohnungskäufer anlocken. Die loftartigen Gebäude der riesigen Fabrik dienen nun als Kulisse für eine hippe Klientel, und man kann annehmen, dass sich ältere Praga-Bewohner in unrenovierten Altbauwohnungen, die jeden Złoty umdrehen müssen, verwundert die Augen reiben. Der Google-Campus hat im Koneser seinen Sitz bezogen, ein Moxy Hotel der Marriott-Gruppe soll im Herbst dazukommen, Galerien und Shops sind geplant, und schon jetzt kann man zwischen Backsteinwänden und unter Kupferröhren die Warschauer Schickeria treffen: Das Restaurant "Zoni" wäre wohl auch in New York eine gastronomische Bereicherung: Die beiden bärtigen Köche, die am offenen Feuer polnische Klassiker wie Rote Bete, Zander oder Fasan zeitgemäß interpretieren, scheinen jedenfalls direkt aus einer Modellagentur für Hipstergastronomen zu stammen.

Am spektakulärsten im neuen Koneser ist das vor wenigen Wochen eröffnete Museum des Polnischen Wodkas. Eine Hommage an das Nationalgetränk, das auch im Sozialismus noch ein Exportschlager war. Heute ist der polnische Wodka aus Roggen, Weizen oder Kartoffeln, der früher überall im ganzen Land freudig konsumiert wurde, ein Fall für die Kulturwissenschaftler. Sogar die alten Trinksprüche und die richtig coole Werbung aus den Siebzigerjahren finden hier neben riesigen Destillationsanlagen ihren Platz. Selbst wer die Wodkaverkostung am Ende der Schau auslässt, verlässt diesen Ort des virtuellen Rausches leicht angeheitert.

Vielleicht ist es ganz gut, wenn man nach so viel Warschauer Innovationsfreude noch einen Abstecher macht ins 2013 eröffnete Museum zur Geschichte der Polnischen Juden (Polin). Tausend Jahre jüdisches Leben in einem Land, das so viele Brüche, Tragödien und Grenzverschiebungen erlebte wie kein anderes in Europa: Das ist an sich eine unmögliche Aufgabe. Gerade deshalb ist das Polin ein kleines Wunder - auch architektonisch. Spender aus aller Welt haben dieses Bauwerk finnischer Architekten mit dem symbolischen Spalt an der Längsachse und den vielen Brücken im Inneren mitfinanziert. Jüdisches Leben, jüdisches Leiden: All das kann man hier neben dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal, vor dem einst Willy Brandt kniete, auf berührende Weise erleben. Als Deutscher sollte man diesen Ort gesehen haben, um zu erahnen, was Deutsche in Warschau einst hinterlassen haben. Leichenberge und Trümmerfelder. Und da hat man das Museum des Warschauer Aufstands noch vor sich, das den Widerstand gegen das Nazi-Regime 1944 auf patriotische Weise feiert.

Die große Herzlichkeit der Warschauer ist nach dem Besuch dieser Museen noch eindrucksvoller. Wie sagt doch Anita Borkowska, die freundliche Reiseleiterin? "Die Warschauer sind bekannt dafür, dass sie jeden Stein zum Denkmal machen. Aber sie haben noch ein anderes großes Talent: Sie feiern gerne das Leben, am liebsten draußen, wo es weniger eng ist."

Informationen

Anreise: Flüge von mehreren deutschen Städten hin und zurück mit Polish Airlines LOT oder Lufthansa ab ca. 130 Euro, www.lot.com, www.lufthansa.com; mit der Bahn gibt es eine Direktverbindung von Berlin nach Warschau in sechs Stunden ab 66 Euro pro Strecke, www.bahn.de.

Unterkunft: Hotel Europejski, Krakowskie Przedmieście 13, DZ ab ca. 330 Euro, www.raffles.com/warsaw.

Restaurant: Zoni, www.zoni.today.

Wodkamuseum: www.koneser.eu.

Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin): www.polin.pl.

Weitere Auskünfte: www.polen.travel.

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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SZ vom 05.07.2018/edi
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