Wandern entlang der deutsch-deutschen Grenze:Ans Ende der Welt und einfach weiter

Vom Todesstreifen zum Naturparadies auf dem Warteberg nahe Klettenberg bei Nordhausen

Nur noch der Grenzstein erinnert an die ehemalige innerdeutsche Grenze auf dem Warteberg nahe Klettenberg bei Nordhausen.

(Foto: Archivfoto: dpa)

Grünes Band statt Todesstreifen: 25 Jahre nach dem Mauerfall wundern sich Wanderer, was für erstaunliche Landschaften ein so großer Mist wie die Grenze zwischen BRD und DDR hinterlassen kann. Nur an manchen Stellen wünscht man sich einen Grenzturm zurück.

Von Marlene Weiss

Der Grenzturm steht mitten auf dem Elbe-Deich und sieht mit seinem riesigen Scheinwerfer auf dem Dach auch nach all den Jahren noch unheimlich aus. Als habe er es mit dem Verschwinden der Grenzer selbst übernommen, alles zu überwachen, was sich regt im ehemaligen Todesstreifen. Auch wenn es nicht mehr Republikflüchtlinge sind, sondern nur noch Radfahrer im bunten Plastikdress oder Kühe, die faul am Flussufer liegen. Und sehr viele Vögel.

"Früher bin ich hergekommen, um Kraniche und Seeadler zu sehen, die flogen in den Osten oder kamen von dort", sagt Dieter Leupold, ein wetterfester Naturschützer mit Schiebermütze und grauem Stoppelbart. "Da dachte man, man ist am Ende der Welt angekommen." War man ja auch, sogar jene, die im Westen lebten, die im Osten erst recht. Heute kann jeder ans Ende der Welt gehen und dann einfach weiter. Oder man bleibt und erkundet es, das Ende der Welt, auch Grünes Band genannt.

Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder, streckenweise, mit dem Kanu; durch Flusslandschaften, salzige Wiesen, Sanddünen und über blühende Hügel. Und wird sich Etappe für Etappe wundern: was für erstaunliche Landschaften ein so großer Mist wie diese Grenze hinterlassen kann.

An der Elbe bei Lenzen, wo früher so mancher in den Fluss gestiegen ist, um in den Westen zu schwimmen, ist der Tag eher grau-golden, der Himmel hängt tief über Land und Fluss. Darunter strahlt die Nachmittagssonne durch und lässt die Sandbuchten unwirklich leuchten. Dieter Leupold, der für den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) das Grüne Band in Sachsen-Anhalt betreut und selbst nur zu Besuch hier ist, meldet einen seltenen Vogel nach dem anderen: Schwarzkehlchen! Seeadler! Trauerseeschwalbe!

Grünes Band entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze

Grünes Band entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze

(Foto: SZ Grafik)

Am Elbstrand stakst derweil ein Flussregenpfeifer herum. Der Deich wurde hier nach hinten verlegt, um der Elbe wieder Platz zu geben. Bei Hochwasser kann sie sich nun in einem riesigen Becken ausbreiten. Bei Niedrigwasser, wie jetzt, ist da ein riesiges Feuchtgebiet mit Wäldern und Wiesen. Die Wildpferde, die sie abgrasen sollen, zeigen sich nicht, schade, sie hätten gut ins Bild gepasst. Aber einem Vogel-Fan könnte man hier Fernglas und Bestimmungsbuch in die Hand drücken und müsste ihn dann so bald nicht wieder abholen.

Geschaffen hat das Grüne Band die DDR. Überall an der Grenze, auf einer Strecke von immerhin fast 1400 Kilometern, hatte die Natur über Jahrzehnte einen Rückzugsraum, bewacht von Grenzern, Minen und Selbstschussanlagen. Auch wenn das nicht der Sinn der Sache war, ist so eine Kette von Lebensräumen entstanden, in denen seltene Tiere und Pflanzen eine Heimat fanden.

Mit dem 9. November 1989 hätte es damit vorbei sein können. Bloß weg mit dem Zaun, dachten damals viele, nichts sollte mehr an die Teilung erinnern. Eilends wurden Straßen gebaut, die die Grenze querten, man wollte nicht länger abgeschnitten sein - bis heute sind es etwa 450 Strecken. Auch viele Bauern pflügten schnell Wiesen zu Äckern um. Wem das Land gehörte, war oft unklar: Manche Flächen gingen an frühere Besitzer, andere an den Staat. Eine Weile lang sollten diese meistbietend verhökert werden, das wäre wohl das Ende des Grünen Bandes gewesen.

Dass die staatlichen Flächen stattdessen an Naturschutz-Stiftungen der Länder übertragen wurden, ist auch einer Handvoll Naturschützern aus Bayern und der DDR zu verdanken. Noch im Dezember 1989, als die halbe Welt im Wendetaumel war, hatten sie ein erstes Treffen in Hof organisiert, um für den Erhalt der kostbaren Landschaften zu kämpfen. Mit 30 Teilnehmern hatten sie gerechnet, tatsächlich kamen 400. Damals bekam das Grüne Band auch seinen Namen.

Der alte Kolonnenweg? Umgepflügt

Es gibt ein einziges Schwarz-Weiß-Foto von diesem Treffen. Sieben Menschen in komischer Achtzigerjahre-Kleidung sieht man darauf, zusammengewürfelt vor einem Banner des bayerischen Bundes Naturschutz, sie halten allerlei Papiere in den Händen und unterhalten sich, niemand beachtet den Fotografen.

Der Zweite von links auf dem katastrophalen Schnappschuss lächelt ernst, zupft sich verlegen am Hosenbein und wirkt etwas überrumpelt von dem, was er da angestoßen hat. Es ist Kai Frobel, der Erfinder des Grünen Bandes, der lange vor der Wende als Erster vom Westen aus die Vögel im Grenzstreifen zählte und das Grüne-Band-Projekt lange beim BUND betreute.

Fast 25 Jahre später stapft er an einem heißen Sommertag durch eine Wiese in Thüringen und ist nicht in Stimmung für Jubiläumsstolz. Viel zu stark genutzt werde die Wiese hier, schimpft er, zu viel Dünger, zu oft gemäht - macht weniger Wildblumen und Kräuter. "Da könnte man auch Beton verlegen und ihn Grün anstreichen." Ein paar Meter neben ihm bricht der alte Kolonnenweg ab, den früher die DDR-Grenzer mit dem Trabi abfuhren, wahrscheinlich irgendwann umgepflügt von einem Bauern mit wenig Sinn für Geschichtsdenkmäler. Noch ein Ärgernis. "Das sollte nicht sein", sagt Frobel.

Einstiger Todesstreifen jetzt Biotop-Verbund

Einstiger Todesstreifen, jetzt Biotop: Der ehemalige Grenzweg bei Geisa in der Rhön ist für Wanderer ein angenehmes Terrain.

(Foto: Heinz Hirndorf/dpa)

Daran muss man sich aber gewöhnen, wenn man das Grüne Band abwandern möchte. Immer mehr Menschen tun das, zum Spaß oder zur Selbstfindung - die alte Grenze ist dabei, sich zu einem innerdeutschen Jakobsweg zu entwickeln, der allerdings so manche Prüfung bereithält.

Kilometerweit kann man gedankenverloren über den holprigen, teils überwachsenen Kolonnenweg stolpern, und plötzlich ist der Weg verschwunden und man steht auf einem Acker oder in einem Gewerbegebiet. Auf 13 Prozent der alten Grenzstrecke ist das Grüne Band so unterbrochen, der Naturkorridor versperrt, der Weg auch.

Der BUND ist dabei, Flächen zu kaufen oder den Bauern abzutauschen, das Grüne Band soll irgendwann wieder vollständig sein. Wie in schlimmsten Teilungszeiten, nur ohne Zaun und ohne Angst.

Das Grüne Band muss umsorgt werden. Wo der Mensch sich nicht kümmert, wächst es zu

Aber vorerst muss man viele Hindernisse umschiffen und sich dahinter wieder auf die Suche nach der Ex-Grenze machen. Das Ergebnis sind grandiose Irrwege, fester Bestandteil der Reiseberichte, die man hier zu hören bekommt. So wie der rettende Grenzturm, der sich zur großen Verzweiflung eines Wanderers als US-Beobachtungsturm erwies. "Man hätte mehr stehen lassen sollen", sagt Kai Frobel. "Das ist doch ein lebendiges Denkmal." Viele Grenztürme sind weg, andere zerfallen, weil den Kommunen das Geld für die Instandhaltung fehlt.

Aber die Grenze hat überall Spuren hinterlassen, auch dort, wo Zaun und Türme verschwunden sind. Neben dem Kolonnenweg kann man häufig Reste des Kfz-Sperrgrabens erkennen, der Fluchtwillige daran hindern sollte, im Auto durch den Zaun dahinter zu brausen. Dahinter sieht man oft eine Reihe junger Bäume; Birken, Eschen oder Pappeln. Hübsch sehen sie aus, wie sie so schnurgerade nebeneinander stehen, wie eine längs halbierte Allee ins Nichts.

Es ist ein Hohn der Natur: Wo nach der Wende der verhasste Grenzzaun eilends herausgerissen wurde, war der gelockerte Boden ideal für Baumsamen. Und so wuchs ein grüner Zaun nach, kaum war der alte draußen. Die Grenze ist zäh, so leicht wird man sie nicht los.

Anderswo ist es gar nicht so leicht, sie in Schuss zu halten. In der Altmark in Sachsen-Anhalt zum Beispiel, nicht weit von Zießau und dem Arendsee, der ein noch erfreulicheres Gewässer wäre, wenn seine winzigen Maränen etwas weniger Gräten hätten. Zu DDR-Zeiten verlief durch den Kiefernwald eine Schneise, die offen gehalten wurde. Längst ist sie mit Bäumen zugewachsen.

Informationen

Anreise: Nach Lenzen mit der Bahn bis Wittenberge, weiter mit Bus 925 (Fahrtzeit 30 Minuten) oder mit dem Fahrrad auf dem sehr schönen Elbe-Radweg. Mit dem Auto von Süden über Leipzig und Wittenberge, von Berlin aus in 2,5 Stunden über die A 24 und Pritzwalk.

Unterkunft: Bio-Hotel Burg Lenzen, DZ ab 84 Euro; Hotel Deutsches Haus in Arendsee, DZ ab 86 Euro.

Karten und Führer: Rad- und Wanderführer sowie ausführlicher Reisebericht: "Eine Reise am Grünen Band Deutschland" von Reiner Cornelius, Auwel-Verlag, sieben Bände; "Deutsch-Deutscher Radweg" von Michael Cramer, Esterbauer-Verlag.

Weitere Informationen: BUND-Projektbüro, Tel.: 0911/57 52 94 10; www.erlebnisgruenesband.de

Die Gegend liegt mitten in Dieter Leupolds Naturschutz-Revier, er kennt jede Pflanze beim Vornamen. Er arbeitet hier daran, den Schaden wieder zu reparieren, den der Wald angerichtet hat: Die Grenzschneise war kostbarer Lebensraum und Reisekorridor für viele Käfer, Schlangen und Vögel. Wald dagegen gibt es rechts und links davon genug.

Mittlerweile ist er ganz zufrieden. Die Naturschützer haben Bäume gefällt, mit Folien Teiche für Kröten zum Laichen angelegt, Steine für Schlangen gestapelt. Ein paar unscheinbare Pflanzen sind mit rosa Stecken markiert: "Sumpfporst", sagt Leupold vielsagend. "Ein echtes Highlight." Ein Stück weiter zeigt er auf einen Farn, der gut in einen Dinosaurierfilm passen würde. Was daran so besonders ist? Dieter Leupold deutet das ratlose Zögern wohlwollend und sagt: "Ja, wir haben auch alle nur gestaunt. Königsfarn." Ach so, ja.

Aber man muss sich nicht mit Pflanzen auskennen, um über den Kolonnenweg zu wandern, der hier noch ziemlich intakt ist. Auf dem sandigen Boden daneben liegen überall Minen-Bruchstücke, die Grenze spielt eine makabre Schnitzeljagd mit ihren Besuchern. Irgendwann reißt der Wald dann weit auf, eine Binnendüne zeigt sich, teils mit Heide überwachsen, man sinkt im Sand ein wie an der Nordsee. Aus der Ferne rattert es leise - " das könnte ein Ziegenmelker sein", meint Leupold, schon wieder so ein seltener Vogel. Vielleicht sind auch die Wölfe schon da - kürzlich wurde jedenfalls ein verdächtiger Kothaufen gefunden.

Eine Grenze, die man hören kann

Die Reise geht weiter, durch den Harz nach Thüringen, vorbei an einer geschleiften Ortschaft im Grenzgebiet und einem Gedenkstein dort, wo einst das KZ Ellrich stand, im dichten Gebüsch versteckt sich viel traurige deutsche Vergangenheit. Aber nicht nur. Dorthin gehört immerhin auch die schöne Geschichte von den fünf Bundesbahnern, die im November 1989 einfach einen Zug auftrieben, auf eigene Faust in Ellrich im Osten die Leute einsteigen ließen und mit ihnen in den Westen fuhren.

Noch weiter südlich, bei den Thüringer Gleichbergen, leuchtet das Getreide. Ein Grenzturm thront über hochstehenden Wiesen, in denen die sehr dicke, sehr laute und sehr seltene Wanstschrecke brummt. Auf einer weiten, nassen Weide hat ein Bauer urtümliche Heckrinder stehen, die das ganze Jahr draußen bleiben, und Konikponys, die den Urpferden ähnlich sehen. Am Horizont arbeitet sich der Kolonnenweg einen steilen Hang hinauf, darüber kreist ein Greifvogel. Sonst sieht man nichts von der Grenze, dafür hört man sie.

Es ist so still.

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