Von Hongkong nach Nagasaki:Schatten der Geschichte

Lesezeit: 5 min

Im Westpazifik gibt es noch selten besuchte Inseln. Deren Naturschönheit lässt nicht erahnen, dass sie Schauplätze blutiger Schlachten des Zweiten Weltkrieges waren.

Von Ingo Thiel

Andächtig schaut sich Hidetoshi Kanematsu in dem engen Gewölbe um. Der freundliche 75-Jährige, den die Mitreisenden nur Toshi nennen, nimmt die getrockneten Blutspritzer in Augenschein, die vom Selbstmord von Minoru Ota, Admiral der Kaiserlichen Japanischen Armee, stammen sollen. Irgendwo hier, in diesem Tunnelsystem in den Hügeln Okinawas, ist im Zweiten Weltkrieg auch Toshis Vater gestorben.

Ein Mann, den Toshi nur von vergilbten Fotos kennt. Er ist der Grund für seine zehntägige Kreuzfahrt von Hongkong nach Nagasaki auf dem Expeditionsschiff Silver Discoverer: "Palaui und Okinawa waren die letzten Einsatzorte meines Vaters. Meine Mutter hat seinen Tod nie überwunden, aber ich wollte schon immer mal hierher." Nach dem Krieg wanderten Großeltern, Mutter und Sohn nach Kanada aus. Toshi, der Karriere bei einer Großbank machte, fühlte sich zeitlebens als Kanadier. Er ist mit Frau, Tochter und Enkel Akito auf den Spuren seines Vaters unterwegs, während die anderen Passagiere eher an den exotischen Inseln und der ungewöhnlichen Route interessiert sind. Nach Hongkong steuert die Silver Discoverer die Philippinen, Taiwan und schließlich Japan an.

Bei der Operation "Iceberg" landeten vom 1. April 1945 an etwa 520 000 US-Soldaten auf Okinawa und stießen auf 100 000 japanische Gegner. Unter größter Geheimhaltung hatten japanische Soldaten monatelang mühsam ein Tunnelsystem in die Hügel geschlagen, Räume ausgegraben und getarnte Luken für Kanonen errichtet. Das ehemalige Hauptquartier der Kaiserlichen Marinesoldaten ist heute ein Museum. Es geht 101 Stufen hinab in enge, niedrige Gänge. An den Felswänden sind noch deutlich die Spuren der Spitzhacken sichtbar. Kommandozentrale, Küchen, Lazarett, Lager - keine der höhlenartigen Nischen ist größer als zwölf Quadratmeter. Es gab kein Wasser, zum Waschen und Kochen mussten sich die Männer unter Beschuss in Lebensgefahr begeben.

Ein Passagier ist auf Spurensuche: "Mein Vater hat wohl gewusst, dass er uns nie wiedersehen wird."

Im letzten Brief, den Toshis Mutter von ihrem Mann erhielt, steht davon kein Wort: "Mein Vater hat aber wohl gewusst, dass er uns nie wiedersehen wird. Er bat sie, mich als guten Japaner aufzuziehen, auch wenn er dabei nicht helfen könne." Kurz vor der Erstürmung der Höhlen, in denen sich nach vier Monaten Verteidigung Tausende Soldaten drängten, begingen Befehlshaber Ota und seine Stabsoffiziere am 13. Juni 1945 Selbstmord mit Handgranaten. In der Schlacht um Okinawa starben mehr als 120 000 Soldaten, darunter rund zwei Drittel der japanischen Verteidiger und unzählige Zivilisten.

Zurück auf dem Schiff blickt Toshi bei einem Bier an der Poolbar nachdenklich hinüber auf das Festland: "Ich habe meinen Frieden ja schon lange gemacht, auch wenn ich meinen Vater nie kennenlernen durfte. Aber diese unmenschlichen Bedingungen mit eigenen Augen zu sehen, beschäftigt einen dann doch."

1 / 3
(Foto: Silversea)

Die Meeresgegend zwischen Japan, China und den Philippinen ist in Europa wenig bekannt. Die "Silver Discoverer" erkundet sie.

2 / 3
(Foto: John Warburton-Lee/mauritius)

Auf der Insel Luzon liegt die Stadt Vigan, deren Zentrum im Kolonialstil zum Weltkulturerbe zählt.

3 / 3
(Foto: mauritius)

Von Yakushima starteten einst Kamikazepiloten.

Unterdessen geht das Bordleben weiter. Ein Historiker erklärt den Passagieren die Frontverläufe des Zweiten Weltkrieges im asiatisch-pazifischen Raum. Ausflüge werden organisiert, die Matrosen improvisieren beim Anlegemanöver in Vigan, um das Schiff sicher zu vertäuen. Ein schmaler Steg aus zusammengeflochtenen Bambusrohren dient als Gangway.

Drei Expeditionsschiffe legen in diesem Jahr in Vigan an - ein Rekord. Die drittälteste Stadt der Philippinen, am 13. Juni 1572 von den Spaniern gegründet, ist noch nicht auf der touristischen Landkarte verzeichnet. Daran hat der Weltkulturerbestatus, den Vigans Altstadt seit 1999 genießt, wenig geändert. Die vielen gut erhaltenen Gebäude aus der Zeit der spanischen Kolonialherren sind einzigartig in Asien. Ganze Straßenzüge mit historischem Kopfsteinpflaster, Holzhäusern und ihren charakteristischen Balkonen und Erkern prägen das Stadtbild. In Vigan erwartet die Passagiere ein Festmahl mit Spanferkel. Sie sitzen im begrünten Hinterhof eines Restaurants, zusammen mit philippinischen Familien.

Anschließend geht es in eine Töpferwerkstatt: Agus Aquino ist ein über die Provinz hinaus bekannter Meister, dessen Vasen und Figuren in Museen stehen. Leben muss er aber vom täglichen Handwerk. Was in Mitteleuropa oftmals als Selbstverwirklichung sinnsuchender Selbstoptimierer gilt, ist hier ein beinharter Knochenjob: Den Ton muss Agus Aquino aus Gruben vor der Stadt per Hand zu großen Blöcken stechen, auf Ochsenkarren stapeln und zur Werkstatt transportieren. Anschließend wird er erst von einem Wasserbüffel und dann von Aquino unter Zugabe von Wasser stundenlang mit den Füßen gestampft, bis er die richtige Konsistenz hat. Die große Drehscheibe auf dem Boden treibt ein Helfer mit den Füßen an. Dann nimmt der Meister einen Tonklumpen und formt das Gefäß, das später getrocknet und gebrannt wird. Bis zu 60 große Krüge pro Tag stellt er auf diese Weise her. Diese Burnay genannten Gefäße nutzen die Einheimischen schon seit Jahrhunderten als Transport- und Aufbewahrungsgefäße.

Tags darauf fahren die Passagiere auf der Insel Palaui mit Motorradrikschas zum Kap Engaño an die Nordspitze. Die kleine Insel an der Luzonstraße ist seit 1994 Meeresschutzgebiet, mit einer großen Biodiversität am Strand und im Wasser. Touristen gibt es auch dort nur wenige. Allenfalls traurige Berühmtheit erlangte Palaui durch die Schlacht vor Kap Engaño im Oktober 1944, Teil eines der größten Seegefechte im Zweiten Weltkrieg mit mehr als 200 Kriegsschiffen und 1800 Flugzeugen. Die Japaner verloren nicht nur die Schlacht, sondern auch die Hälfte ihrer Flotte. Von diesem Grauen ist heute nichts mehr zu sehen. Vom 1896 mit Natursteinen erbauten Leuchtturm schaut man hinunter auf eine Idylle mit dem bis zum Horizont tiefblauen Meer - das Schlachtfeld, das Toshis Vater auf einem Zerstörer noch überlebte.

Auf Taiwan verbrachten die Kamikaze-Piloten die letzte Nacht, umgeben von uralten Zedern

Auf der Insel Sabtang, auf halbem Weg zwischen Luzon und Taiwan, legt die Silver Discoverer als erstes Kreuzfahrtschiff überhaupt an. Am Kai scheinen alle 1621 Einwohner zu stehen, um die Gäste mit einer Show zu empfangen. Die Kinder tanzen zu Liedern von Lady Gaga und Madonna, ein Spektakel, mit dem die Bewohner wohl zeigen wollen, dass sie nicht hinter dem Mond leben. Spannender ist da schon der Ausflug mit Auslegerbooten auf die andere Seite der Insel. Dort leben Seenomaden, die noch mit Stellnetzen und selbstgebauten Harpunen fischen. Ein engagierter Lehrer versucht, den Kindern eine Zukunft in einem anderen Beruf als Fischer aufzuzeigen. Das Expeditionsteam hat Englischlehrbücher, Schreibhefte und Stifte für sie mitgebracht.

Toshi ist hin- und hergerissen zwischen der Naturschönheit dieser Region und den Schrecken des Krieges. "Man kann sich wirklich nur fragen, wie viel Gehorsam und Pflichtgefühl nötig sind, um so eine schöne Welt freiwillig zu verlassen." Kopfschüttelnd steht er in Hualien auf Taiwan, das damals japanische Kolonie war, vor dem ehemaligen Kamikaze-Hauptquartier. Es war oberhalb der Stadt zwischen Pinien und Zedern in einen großen Park eingebettet. Hier verbrachten die Selbstmordpiloten ihre letzte Nacht vor den Einsätzen, ließen sich von einem Shinto-Priester segnen und bekamen noch einmal ihre Lieblingsspeisen. Die Berge im Hintergrund, der ins Meer mäandernde Fluss Meilun und die blaue Bucht bieten ein herrliches, friedliches Panorama.

Malerisch ist auch die 1993 zum Weltnaturerbe erklärte japanische Insel Yakushima. Die Einheimischen scherzen, es regne dort 35 Tage im Monat. Das führt zu einer üppigen, in vielen Grüntönen schimmernden Vegetation mit bis zu 7000 Jahre alten Zedern. Im Museum dürfen die Passagiere das kostbare Holz selbst bearbeiten: Unter Anleitung eines Meisters schnitzen, feilen und schleifen die Gäste japanische Essstäbchen aus 300 Jahre altem Zedernholz. Zum Abschlussdinner an Bord probieren viele Passagiere ihre neuen Esswerkzeuge aus. Bei Jakobsmuscheln und Chateaubriand zieht Toshi, der in Nagasaki noch das Atombomben-Museum besuchen wird, Resümee: "Für mich war das keine Reise in die Vergangenheit, sondern ein Fingerzeig für die Zukunft meines Enkels. Es ist wichtig, der jungen Generation zu zeigen, was Propaganda, Hass und unbedingter Gehorsam anrichten."

© SZ vom 11.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: