Virginia:Wenn die Seele Feuer fängt

Der Blue Ridge in Virginia strotzt von Mythen und Legenden amerikanischer Geschichte, sie machen seine Seele aus. Im Herbst, entzündet der Indian Summer entlang der Berge ein flammendes Naturschauspiel.

Ingo Hübner

Kontakt mit dem Übersinnlichen ist immer von Vorteil, schärft er doch meistens auch die Sinne für das Weltliche. Aber das ist nur ein flüchtiger Gedanke, denn John Schreiner ist bereits auf dem Weg nach oben. Unter seinen schnellen Schritten ächzen die mit dickem Teppich bewehrten Stufen wie aus großer Ferne.

Am Treppenabsatz angelangt, schiebt er einen Schlüssel ins Schloss und die Tür öffnet sich mit einem leisen Quietschen in den Angeln. Aus dem Raum dahinter entweicht abgestandene Luft, die den Geruch von vergilbten Buchseiten mit sich trägt.

Willkommen im Reich von Jeane Dixon, willkommen an ihrem Lieblingsort in Strasburg im Shenandoah Tal im Herzen des Blue Ridge, willkommen in ihrem Museum! "Wenn Sie mit Ihrem Rundgang fertig sind, geben Sie mir einfach Bescheid", sagt John und schiebt dabei eine widerspenstige graue Haarsträhne aus seiner Stirn. Dann ist er verschwunden.

Nur die Stille und Jeane Dixon sind noch präsent. Jeane Dixon ist so etwas wie das amerikanische Pendant zu Nostradamus. Sie ist die wohl bekannteste Hellseherin des 20. Jahrhunderts, die zu Lebzeiten mit der Prophezeiung des späteren Attentates auf John F. Kennedy berühmt geworden ist.

Den Mord an Martin Luther King, die Wahl von Richard Nixon: Jeane Dixon hat alles vorausgesehen. Ihre spektakulärsten Visionen, Gemälde und Fotografien der 1997 Verstorbenen, der Nachbau ihres Schlafzimmers, ein paar persönliche Habseligkeiten, das ist es, was an das Medium erinnert und geblieben ist.

Auf einem Schwarz-Weiß-Foto ist Jeane in ihrer Lieblingspose: mit Kristallkugel und Katze im Arm. Ein Mythos, der sich selbst inszeniert, transzendent und bis heute mysteriös.

Ähnliches ließe sich auch über den Blue Ridge Parkway sagen, der nur ein paar Meilen entfernt, zunächst als Skyline Drive durch den Shenandoah Nationalpark, beginnt. Über 750 Kilometer "inszenierter" Mythos windet sich durch die Blauen Berge: Heute die beliebteste Straße der Nation, in den 1930er Jahren als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise gebaut für Vergnügungsfahrten, und dennoch auf geheimnisvolle Weise entrückt von der Welt herum.

Lebenslinie mit Sehnsuchtsmotiven

Eine amerikanische Lebenslinie mit Sehnsuchtsmotiven: Die in der Dämmerung zu schwarzen Scherenschnitten aufgereihten Bergketten der Appalachen. Mit Geschichte: Das von Bürgerkriegsblut getränkte Shenandoah Tal. Mit Musik: Der Bluegrass hat in den Bergen seine Wurzeln.

Entlang der Straße inszeniert aber selten der Mensch, sondern meist die Natur selbst. So wie in den unterirdischen Sälen der Luray Caverns, die das größte Höhlensystem der östlichen USA bilden. Fast 15 Meter misst der längste von der Decke bis zum Boden reichende Stalaktit.

Vorhänge, gefrorene Wasserfälle, monumentale Säulen aus Stalagmiten und Stalaktiten in Weiß, Ockergelb und Rostrot sind die Landschaftsformen und Farben dieser lichtscheuen, feuchten Welt. "Viele Wissenschaftler sprachen nach der Entdeckung der Höhlen im Jahr 1878 von der Sensation des Jahrhunderts", sagt Höhlenführer Peter im letzten Raum, der aufgrund seiner Ausmaße gleich den Namen Kathedrale trägt.

Stonewall der Nationalheld

"Die Legende sagt jedoch, dass bereits General Stonewall Jackson die Höhlen während seines berühmten Shenandoah Feldzuges im Bürgerkrieg 1862 als Unterschlupf benutzt hat." Denkbar wäre es zumindest.

Stonewall, dessen Name auch heute noch jeden Militärhistoriker mit Ehrfurcht erfüllt, hat im Shenandoah Tal eine gewaltige Übermacht der Unionstruppen zurückschlagen können. Vielleicht auch mit Überraschungsangriffen aus den Höhlen heraus? Wer weiß?

Wenn die Seele Feuer fängt

Fest steht: Im Blue Ridge kommt keiner am Bürgerkrieg und an Stonewall Jackson vorbei. Sein Name ziert in beinahe jeder Stadt eine Straße, ein Hotel oder zumindest ein Restaurant. Stonewall der Nationalheld, zu seinem denkmalartigen Grab in Lexington pilgern Menschen wie zur Ruhestätte eines Heiligen.

Sogar die rastlose Beatnik-Legende Jack Kerouac schrieb in dem Roman "Unterwegs" über seinen Besuch von Stonewall Jacksons Grab. Seiner Ruhelosigkeit möchte man sich hier jedoch nicht gleich anschließen, sondern eher im Anblick der Silhouette der Blauen Berge versinken.

Denn über ihrer schemenhaften Ahnung zieren wie mit Strohhalmen zerblasene krabbenfarbene Wolken den Himmel im letzten Licht des Tages. Es ist die Zeit der kalten Nächte und der letzten klaren Tage, die Zeit der Kürbis- und Apfelernte, und auf den Veranden der viktorianischen Häuser quietschen die leeren Schaukeln leise im Wind.

Der Morgen ist eine Insel, rund um das Skyland Resort hat der Nebel den Rest der Welt versteckt, nur die bewaldeten Bergrücken ragen aus dem wabernden grauweißen Ozean heraus. Aber noch immer kleidet sich die Natur überwiegend in Grün, was sie im Herbst eigentlich nicht sollte.

Nur vereinzelt leuchtet der Ahorn rot. Eng und kurvig geht es an scheinbar jungfräulicher Natur vorbei. Im 21. Jahrhundert dominieren Ahorn und Eiche den Blue Ridge, noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war es die American Chestnut.

Ein Lebewesen mit gigantischen Ausmaßen: Auf über fünf Meter Durchmesser brachte es der dickste jemals vermessene Stamm dieser Kastanienart, Gerüchten zufolge wuchs der Baum bis zu 50 Meter hoch. Einer Population von über vier Millionen Exemplaren in den Appalachen konnte nicht einmal die aufstrebende Holzindustrie gefährlich werden, es war ein aus Asien eingeschleppter Pilz, bekannt als Kastanienmehltau, der sie in wenigen Jahren ausrottete.

Die Bedeutung der Kastanie für die frühen Bewohner der Berge lässt sich nur noch erahnen: Ihre Nüsse bezeichnete man früher oft als Manna Gottes, die Speise, die bei der Wanderung der Israeliten durch die Wüste immer nachts vom Himmel fiel. An der Rückkehr dieses Mythos' wird quer durch die Appalachen geduldig gearbeitet.

Fred Hebard, Pathologe bei der American Chestnut Foundation - das Institut versucht bereits seit 1983 eine resistente Kastanienart zu züchten -, formuliert das in Interviews immer so: "Wenn wir Glück haben, sehen wir hier in Virginia um 2050 herum wieder Kastanienwälder."

Der Parkway rollt weiter, an Äonen brach liegender Zeit vorbei. Die Granite, die sich an Orten wie Peaks of Otter, als dunkelgraue Kuppen aus dem Wald schälen, kommen direkt aus dem Glutofen des Erdinneren und werden gar seit einer Milliarde Jahren von Wind und Wetter bearbeitet.

In der Zeitschleife gefangen

Wenn die Natur so lange feilt, wendet sich alles ins Liebliche, sanft Geschwungene, von anmutigen rollenden Berg- und Hügellandschaften ist dann die Rede, und an den Straßenrändern blüht violett angehauchter Hartriegel. Die Zeit spielt auf dem Parkway sowieso ihr eigenes Spiel, erst scheint sie langsamer zu werden, bis sie schließlich ganz stehen bleibt.

Galax ist so ein Nest, das in diesem Kontinuum der Zeitlosigkeit, eventuell sogar in einer Zeitschleife, gefangen ist. Genau wie zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren befindet sich auch heute die Holzindustrie im Niedergang.

Man ahnt es schon, bevor es jemand ausspricht: In China wird billiger produziert. Da bleibt eigentlich nur die Besinnung auf den musikalischen Teil der alten Appalachenkultur: Old Time Mountain Music und der daraus hervorgegangene Bluegrass stehen wieder hoch im Kurs.

Vor einigen Jahren haben die Tourismusmanager die Crooked Road, eine imaginäre Bluegrass-Straße, erfunden. Ihre Kapitale ist Galax. Im String Bean Coffee Shop etwa, treffen sich die Lokalmatadore immer dienstags zur Jam-Session. Ein Laden, der die Atmosphäre eines Wohnzimmers mit Schaufenster auf die Straße verströmt.

In den Sofas verschwinden gepuderte faltige Frauen mit Haarsprayfrisuren aus den 1950ern, die Männer sind vom Bourbon-Whiskey angestachelt. Im Halbkreis vor dem Schaufenster sitzend, fiedeln sie als wäre ihnen der Teufel dicht auf den Fersen. Danach die Audienz mit dem Kopf der Band: Jesse Lowell ist der beste Banjo-Spieler weit und breit, fast schon eine Legende, sagen die anderen.

Nur Jesse mit Baseballmütze, strengem grauen Vollbart, Karohemd und Jeanslatzhose, redet nicht viel. Und wenn doch, dann nickst du einfach verständnisvoll, denn sein Blue Ridge Mountain Englisch klingt verdammt nach kaugummiverzerrtem Chinesisch. So ist das eben manchmal mit lebenden Legenden.

Aber egal, der Mann hat schon längst durch sein Banjo gesprochen und die Geschichte des Bluegrass ist sowieso im nur wenige Kilometer entfernten Blue Ridge Music Center dokumentiert. Jesses Instrument, das Banjo, kam vor etwa 300 Jahren mit den afrikanischen Sklaven nach Amerika.

Bass, Gitarre und Violine haben die Europäer mitgebracht und weil das Leben früher hart und trostlos war, hat man sich zusammengesetzt und musiziert. Deswegen ist der Bluegrass auch so lebensfroh, ein Gegenstück zur Tristesse und Schwermut in den Bergen.

Wenn die Musik das Lebenselixier der Menschen im Blue Ridge ist, dann ist der Indian Summer ein morbider Rausch der Natur. Vier lange, frostige Nächte hat es gedauert, bis es so weit war. Jetzt steht der Wald in seinen explosiven Farben da, der Ahorn und die Roteiche, sich gegenseitig überbietend, in loderndem toten Rot, die Weißeiche, Birke und Eberesche in fahlem Zitronengelb, und dazwischen die Buche im Orange reifer Kürbisse.

Der Indian Summer in seiner stärksten Inszenierung, als magische Metamorphose rollt er von Norden her über die Berge und verschlingt nach und nach das ganze Grün. In den alten Indianerkulturen ein Zeichen der Transzendenz, ein letztes Geschenk der Götter vor dem nahenden Winter. Und diesmal ist es nicht nur ein flüchtiger Gedanke: Der Kontakt mit dem Übersinnlichen zeigt bereits deutliche Wirkung.

Information Anreise: United Airlines fliegt täglich von Frankfurt nach Washington D.C., Flug ab ca. 470 Euro, Tel: (069) 500-70387, Internet: www.unitedairlines.de Nach Strasburg und zur nahe gelegenen Auffahrt in den Shenandoah Nationalpark, der in den Parkway übergeht, dauert es nicht viel mehr als eine Autostunde. Einen Mietwagen gibt es z.B. bei Alamo, buchbar im Internet: www.alamo.de, Preis ab 165 Euro für eine Woche.

Beste Reisezeit: Der Indian Summer oder die so genannte "Fall Foliage"-Saison beginnt in der Regel ab Anfang Oktober, die Laubfärbung hält meist bis Mitte November. Wöchentliche Berichte über den Fortschritt der Laubfärbung: www.virginia.org/fall/

Übernachten Strasburg: Hotel Strasburg, 213 Holliday Street, im viktorianischen Stil liebevoll eingerichtetes Familienhotel, DZ ab 83$, Tel: (540) 465-9191, Email: thehotel@shentel.net, Internet: www.hotelstrasburg.com

Skyland Resort: Skyline Drive, Shenandoah National Park, auf dem höchsten Punkt der Berge, bieten die Zimmer besonders in der Dämmerung atemberaubende Ausblicke über die Appalachen. DZ ab 87$, Tel: 1-800-778-2851, Internet: www.visitshenandoah.com, Email: shenandoah@aramark.com

Staunton: Stonewall Jackson Hotel, 24 South Market Street, historisches Hotel aus den 1920ern, jüngst im alten Glanz renoviert. DZ ab 110$, Tel: (540) 885-4848, Email: info@stonewalljacksonhotel.com, Internet: www.stonewalljacksonhotel.com,

Galax: New River Trail Cabins, Stockyard Road, idyllisch an einem Fluss gelegene, modern eingerichtete Blockhütten. Hütte ab 120$, Tel: (540) 276-233-4706, Email: info@newrivertrailcabins.com, Internet: www.newrivertrailcabins.com

Auskunft und allgemeine Informationen Infomaterial zur Capital Region USA (Washington D.C., Virginia und Maryland) kann man gebührenfrei unter 00800-9653-4264 oder über die Emailadresse crusa@claasen.de anfordern. Internet: www.capitalregionusa.de

Veranstaltungshinweise und Informationen für den Parkway findet man unter: www.blueridgeparkway.org

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