Süddeutsche Zeitung

Venedigs Traumschiffchen:Das Ballett der Gondeln

Die berühmten Kähne sind mehr als ein Fortbewegungsmittel, ihr eigentlicher Sinn ist die Schönheit. Dabei ist jede Gondel in Venedig verzogen - und soll es auch sein.

Willi Weiss

Nur wenige Stunden nach der Abenddämmerung wird Venedig stumm. Kein Hund bellt, keine Katze faucht, kein Paar streitet sich und keins liebt sich hörbar.

Wenn die Stunden fortschreiten, legt sich der Dunst von der See wie Watte in das Gewirr der schlecht beleuchteten Gässchen und verschluckt jeden Laut, der ahnen lassen könnte, dass doch hunderttausend Menschen in der Nähe sind.

Kurz vor Morgengrauen scheint das Wasser, das durch die finsteren Kanalstraßen schwappt, das einzig Lebendige in dieser Stadt zu sein, bis in der Früh die menschliche Aktivität beginnt.

Von den Balkonen aus sind in der Dunkelheit die Positionslichter der Transportboote zu erkennen, die mit leisen Motoren dicht um die Ecken der Häuser biegen und ihre Waren entladen. Sacht werfen die Bootsführer Pakete in die Eingänge, deren Schwellen nur leicht oberhalb des Wasserspiegels liegen.

Im Schein der Schiffslampen gehen sie die Ladepapiere durch. Italienisch dringt zum Balkon hoch, und es ist erstaunlich, dass diese Sprache auch sehr leise gesprochen werden kann. Erst viel später, wenn es schon hell ist, tauchen die ersten Gondeln in den Kanälen auf.

Manchmal einzeln, meist in schwimmenden Verbänden. Sechs, sieben hintereinander. Wenn die Gondolieri die elf Meter langen Kähne durch die engen Wassergassen steuern, geschieht das mit ruhiger Sachlichkeit.

Der Rio delle Veste im Stadtteil San Marco ist ein schmaler Kanal, es kommen dort gerade noch zwei mittlere Kähne gleichzeitig durch. Wenn sich an den Ecken Gondeln aus beiden Richtungen begegnen, manövrieren die Bootsführer nach Regeln aneinander vorbei, die nirgends festgelegt sind, aber wohl schon zu Zeiten galten, als noch die Dogen über die Stadt herrschten.

Die Männer wissen, dass sie sich hier und dort an den Wänden festhalten können, an einer Fensterbank, einem Türrahmen oder einem herausragenden Eisenzapfen.

Das alles geschieht fast flüchtig, mit ballettähnlicher Leichtfüßigkeit. Die Gondeln lassen sich vorwärts und rückwärts scheinbar spielend wie ein gutmütiges Lasttier manövrieren. Sie bremsen und drehen sich mühelos im Kreis.

Den Gondolieri hilft dabei das perfekte System, auf dem sie stehen. Es ist eine funktionierende Anomalie. Denn wie manche Schönheit ist auch die Gondel ein verzogenes Wesen. Sie ist auf der linken Seite 16 Zentimeter länger und bis zu 24 breiter.

Aber nur durch diesen Kunstgriff bleibt sie gerade auf dem Wasser und gleicht das Gewicht des Gondoliere aus, der links steht und rechts steuert.

Das Ruder liegt dabei auf der Forcola. Diese Gabeln sind das Herz der Gondel. Ihr Pendant am anderen Ende heißt Ferro und ist eine beilartige metallene Spitze, die den Hut des Dogen darstellt. Ihr Gewicht hilft, die Gondel auszutarieren.

Der Ferro ist gekrümmt wie der Canal Grande. Die sechs Zähne unter dem Hut symbolisieren die Sestieri, die Stadtteile Venedigs, ein siebter Zacken, der nach hinten zeigt, steht für die Insel Giudecca.

Der Besucher fühlt sich in Venedig angekommen, wenn er auf einem Vaporetto, einem der Wasserbusse, den Rialto die Strecke vom Bahnhof Santa Lucia bis zur Endstation der Linie 1 befährt. Die Station heißt San Marco Vallaressa.

Von dort aus sieht man zur Rechten auf das offene Meer. Auf der anderen Seite liegen der Markusplatz mit der Basilika, dem Dogenpalast sowie der Campanile.

Wer allerdings zu Saverio Pastors Werkstatt will, muss schon eine Station früher, am Santa Maria del Giglio, aussteigen und über die hölzerne Accademia-Brücke hinüber zum Stadtteil Dorsudoro gehen.

Pastors Betrieb liegt am kerzengraden Kanal Rio della Fornace. Nur eine Ecke weiter ist der Palazzo Venier dei Leoni, das ehemalige Haus von Peggy Guggenheim, das heute ein Museum für abstrakte Kunst ist.

Pastors Betrieb ähnelt eher einem Atelier als einer Werkstatt.

Zum Hobeln und Schmirgeln klingt aus einem Lautsprecher Klaviermusik. Saverio fertigt vor allem die Forcola, jene kunstvollen Rudergabeln, welche die Gondeln so spielerisch beherrschen helfen.

Überall im Raum sind diese Dollen ausgestellt, deren abstrakt künstlerisches Aussehen eher vermuten lässt, dass sie Leihgaben des benachbarten Guggenheim-Museums sind. So ist es auch zu erklären, dass sie dort in Größen stehen, die ein Schiffchen zum Kentern bringen würden.

Die Forcola ist gleichermaßen ein Kunstobjekt. Sie präsentiert Wohlstand auf angestrahlten Sockeln in den vornehmen venezianischen Eingangshallen und in Häusern auf der ganzen Welt, deren Bewohnern die Stadt nicht mehr recht aus dem Kopf geht.

Auch wenn es augenscheinlich keine Gondolieri sind, die ihn aufsuchen, nimmt sich Pastor alle Zeit, um den Fremden von seiner Kunst zu erzählen. Sein Lehrling hobelt derweil fleißig an einem Ruder, und der noch junge Meister wirft immer wieder einen Blick auf das Stück, kniet sich davor, kneift das Auge zu, als ziele er und untersucht die Fläche nach Holprigkeiten.

Pastor spricht von der langen Erfahrung der venezianischen Rudermacher, von den Tricks und Kniffen und der Zeit, die sein muss, um diese Präzision zu erreichen. Die Werke Pastors werden aus einem einzigen Stück Nussbaum gefertigt. Dem Gondoliere sind ihre verschiedenen Anschlags- und Haltepunkte vertraut.

In dieser Dolle kann das Ruder in acht verschiedenen Positionen gehalten werden. Durch ihre konstruktive Genauigkeit lassen sich die Gondeln leicht manövrieren.

Es gibt sie ursprünglich nur in Venedig. Und dort schwimmen nur 500 Exemplare durch die Kanäle. Die Produktion kennt keine Rationalisierung, Fusionierung und Globalisierung. Sie ist ein kleines, feines Gewerbe, das mit entrückter Hingabe gepflegt wird.

Nur ein paar Ecken entfernt von Pastors Werkstatt, an der kleinen Brücke gegenüber der Kirche San Trovaso, stehen Arbeiter und Touristen mit Wein an der Kaimauer, auf der Teller abgestellt sind. Angehäuft sind sie mit Stückchen, Teilchen, Brötchen, die sie sich aus der Osteria dahinter geholt haben.

Diese kleinen Lokale präsentieren in Glasvitrinen eine unüberschaubare Menge verschiedener Häppchen. Vor allem die Cichettis. Es sind mundgerechte Brotstückchen, die mit Fisch, Wurst, Sülze, Schinken und Käse belegt sind. Jede Osteria hat ihre eigenen Rezepte und variiert mit schier grenzenloser Phantasie.

Per Fingerzeig zum Mittagsmahl

Der Gast wählt die Cichetti und legt dazu kleine Teile italienischer Salami, Krebsröllchen, gefüllte Datteln, Tomaten und Paprika, schichtet Artischockenherzen auf den Teller oder deutet auf die mit Zwiebeln, Essig, Öl und Pinienkernen eingelegten Sardinen. Es ist die venezianischste Art zu essen, zu der es auch gehört, dass ebenso per Fingerzeig aus einer Vielzahl Flaschen der dazugehörige Wein aussucht wird.

Der Zentiliter-Schluck heißt Ombra und gehört in Venedig vom Morgen bis zum Abend zum Lebensgefühl. Der Kunde bezahlt, ist nicht überrascht, weil die Preise für jedes Stückchen ausgeschildert sind und taucht dann unter auf irgendeiner Bank in der Nähe.

Auf der anderen Seite der kleinen Brücke verdeckt die Squero - die Gondelwerkstatt - des Lorenzo della Toffola die nüchtern massige Kirche San Trovaso. Das Wohnhaus und der Betrieb aus alpinen Holzhäusern passen weder in die Zeit noch zu dem Ort, an dem sie stehen.

Niemand weiß, ob die Klingel an Toffolas Gondel-Werkstatt überhaupt eine Bedeutung hat. Jedenfalls hört sie keiner.

Der Meister ist zunächst überhaupt nicht da, erscheint dann doch, nimmt aber den Besuch eher beiläufig zur Kenntnis. Dafür lässt er die Fremden völlig frei in der Werkstatt herumstöbern. Es riecht angenehm nach gehobeltem Holz und Lack. Ein Lautsprecher beschallt das Gelände mit Eros Ramazottis Stimme.

Das Areal endet an einer kleinen künstlichen Bucht. Dort warten vier oder fünf Gondeln darauf, repariert oder von ihren Besitzern wieder abgeholt zu werden.

Toffola ist ein großer, blonder, kräftiger Mann, der von Statur und Habitus so wenig ins italienische Klischee passt wie sein alpines Haus. Wahrscheinlich sind seine Vorfahren vor Generationen mit dem Holz, das sie geliefert haben, aus den Dolomiten gekommen und an der Lagune geblieben.

Im Werkstattschuppen stehen die Gerippe neuer Boote. Ihre Spitzen laufen bis zum Dach. Die rohen Querverstrebungen der Gondeln lassen die spätere Eleganz nur ahnen. Toffola findet dann doch Zeit und erzählt ein bisschen, im Weggehen, im Kommen und während er hobelt, richtet und einpasst.

In einer Saison baue er zwei neue Gondeln, sagt er, das reiche für seinen Betrieb. Am meisten beschäftigten ihn Reparaturen. Venedig brauche pro Jahr nur so zwischen zwanzig und dreißig neue Boote.

Und was kostet so etwas?

Toffola sagt den Preis auf Englisch. Bloß keine Missverständnisse in dieser Frage. Lieber den Betrag aufschreiben, den er nennt. 13.000 oder 30.000 Euro? Der Squerarioli streicht die 13.000 durch. "Viel Geld, was?", bedeutet er und zuckt mit den Schultern.

Aber er arbeite immerhin 500 Stunden an einer Gondel. Hinzu komme das hochwertige Material. Seit Jahrhunderten verwenden die Gondelbauer immer die gleichen neun Holzarten für die Boote.

Es ist ein Zusammenspiel von Funktion und Gewicht. Der Boden ist aus Fichte, die sich im Wasser ausdehnt, die Außenwände sind aus harter Eiche, damit Karambolagen mit anderen Booten oder Hauswänden möglichst ohne Spuren bleiben. Heck und Bug sind aus Linde, die Sparren aus Lärche.

Die Streben fertigt er aus Ulme und die Abdeckung aus Mahagoni. Die Fahrgäste sitzen auf Kirschholzbänken. Die Stange des Riemens ist aus Buche, seine Ruderfläche aus der Wurzel des Nussbaums. Es sind 280 Teile, jedes davon wird präzise konstruiert und so zusammengeführt, dass das Werk am Ende wie ein Stück erscheint.

Zehn bis zwölf Jahre hielten sie durch, sagt Toffola. Dann seien sie am Ende und müssten verschrottet werden. Das sei nicht viel Zeit, bis dahin müsse die Gondel abbezahlt sein.

Kein Wunder, dass die Rundfahrten so teuer sind. Welcher Preis wäre der des Fachmanns?

"Nein, nein", Toffola wehrt ab, um klarzumachen, dass dies nicht sein Metier ist, um dann noch hinzuzufügen: "Na ja, es pendelt sich wohl so bei 75 Euro für nicht ganz eine Stunde ein."

Eine Gondel sei nicht da zum tatsächlichen Gebrauch. Ihr Zweck sei ein anderer, sagt Toffola und dreht wieder in Richtung Werkstatt. "Ihr eigentlicher Sinn ist ihre Schönheit", sagt er fast gehemmt. "Jedes Boot muss eine Pracht sein. Nichts daran darf das Auge beleidigen. An eine Fahrt durch Venedig werden Sie sich bis zum letzten Moment Ihres Lebens erinnern. Die Gondel ist kein Gegenstand, sie ist ein Traum."

Drüben an der Kaimauer stehen immer noch die Gäste der Osteria im Spalier und sind selig mit den Cichetti und Ombra. Das Wasser schlägt kleine Wellen im Kanal davor. Es schaukelt die Boote wie Kinderwiegen.

Niemand erlebt Venedig so wie die Passagiere einer Gondel. Wer sie eine Zeit beobachtet, bemerkt, dass sie kaum miteinander sprechen und wenn, dann nur sehr verhalten. Die Fahrt ist nicht Fortbewegung, die Routen sind ohnehin Kreise. Sie ist eine Venedig-Kontemplation.

Wer sich lautlos durch die Kanäle treiben lässt, begreift nicht nur den Charme des Ortes. Er fügt sich in den Geist der Lagune ein und merkt, dass er ein Teil dieser ausnehmend stillen Stadt geworden ist.

Informationen

Anreise: Mit Alitalia ab Frankfurt und zurück ab 90 Euro, mit dem Europa-Spezial der Bahn von München und zurück ab 58 Euro.

Gondelbauer: Saverio Pastor, Dorsoduro 341, Fondamenta Soranzo, 30123 Venezia, Tel.: 0039/041/5225699, Internet: www.forcole.com, E-Mail: savepastor@libero.it

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Quelle:
SZ vom 1.3.2007
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