Süddeutsche Zeitung

Karneval in Venedig:Zwischen Kitsch und Kommerz

Die Touristen feiern, die Venezianer sind genervt. Zu Besuch in einer Stadt, in der das Kostüm zum Klischee geworden ist.

Von Julia Rothhaas

Eine Nacht lang aussehen wie Mata Hari? Macht 1560 Euro. Ein Schnäppchen im Gegensatz zu Marie Antoinette, die kostet doppelt so viel. Für das ausgestellte Kleid in Rosé, Gold, Flieder mit bodenlangem Mantel und Kopfschmuck samt Feder von Caterina Cornaro, der letzten Königin Zyperns, bezahlt man hingegen 3800 Euro Leihgebühr. Noch nicht eingerechnet: Pantoffeln, Handtasche, Hut, Maske, Perücke, Make-up. Und die Eintrittskarte für den "Ballo del Doge", einen der bekanntesten Kostümbälle Venedigs.

Wer an diesem Samstagabend den Palazzo Pisani Moretta direkt am Canal Grande betritt, beleuchtet mit zweitausend Kerzen, hat zuvor zwischen 1500 und 3000 Euro Eintritt überwiesen, je nach Platzierung auf einem der beiden Stockwerke. Günstiger wird es erst, wenn man kurz vor Mitternacht dort aufschlägt: Da kostet die Karte "nur" 800 Euro. Ohne Essen, ohne Show. Ein teurer Spaß, für einen einzigen Abend. Willkommen im Karneval von Venedig.

Die italienische Ausgabe der Vanity Fair verspricht Ballbesuchern "die beste Nacht deines Lebens", der US-Fernsehsender ABC nennt ihn "eines der zehn Dinge, die man unbedingt erlebt haben muss". Deswegen sei das Ganze "eigentlich unbezahlbar", findet Antonia Sautter, die Initiatorin des Dogen-Balls, Designerin und Inhaberin einer der bekanntesten Kostümverleihe der Stadt. Schon als Kind habe sie verkleidet auf dem Markusplatz gestanden, die Mutter hatte ihr sämtliche Kleiderwünsche geschneidert. Diesen Traum erfüllt sie seit nun mehr 26 Jahren auch ihren Kunden, die sie lieber Freunde nennt.

Tote Hose? Da hilft, was in Italien immer hilft: schöne Frauen

An den außergewöhnlichen Kleidern arbeiten Sautter und ihre Näherinnen mitunter ein Jahr lang. Tausende Pailletten, Schleifen, Perlen, Rüschen, Bordüren, Federn aus Samt und Seide werden dafür per Hand verarbeitet. Heraus kommt eine Mischung aus historischem Vorbild und Haute Couture auf LSD. Rund 1500 Kleider hängen in ihrem Atelier gleich hinter dem Markusplatz, thematisch reichen sie vom Mittelalter bis zu den Goldenen Zwanzigern. Ihre Kundenliste ist lang: von Ferrari bis Bulgari, von Stanley Kubrick bis Monty Python. Sie alle haben sich von ihr schon ausstaffieren lassen.

Den Clown mit roter Nase wird man hier vergebens suchen, der Karneval in Venedig sieht deutlich anders aus als der deutsche Fasching. Was auch an seiner langen Geschichte liegt. 1094 wurde er erstmals schriftlich erwähnt, damals trabten kurz vor der Fastenzeit junge Männer in Tierkostümen durch die Gassen. Später tauschte das gemeine Volk zur allgemeinen Belustigung den Arbeitskittel gegen die Kluft des Königs und feierte bei frisch Geschlachtetem vor dem Markusdom, während es sich der Adel abgeschirmt in seinen Palazzi gutgehen ließ.

Mit der Commedia dell'Arte im 16. Jahrhundert kamen die Masken in die Stadt, denn als Harlekin, Colombina oder Pantalone konnte man sich ungestraft über seine Herrschaften lustig machen. Im 17. Jahrhundert galt die großflächige "Moretta"-Maske bei den Damen als elegant - die sie vom Sprechen abhielt. Zu Zeiten von Giacomo Casanova, ein Jahrhundert später, wurde es dann lockerer. Zur Maske trug man einfach seine besten Kleider: Justacorps, den knielangen Überrock, und Fischbeinkorsett. Bis 1797 erst einmal alles vorbei war. Der Karneval fand mit dem Einmarsch Napoleons vorerst ein jähes Ende.

Karneval in Venedig heute: Für ein Stück vom Mythos reist inzwischen die halbe Welt an die Lagune. Da sind diejenigen, die kofferweise aufwendige Kostüme in die Stadt schleppen, um versteckt unter Dreispitz, Reifrock und Pestmaske in Zeitlupe unter den Arkaden der Prokuratien auf- und abzuwandeln. Damit der andere Teil der Touristen etwas zu gucken hat, der sich mit einer Drei-Euro-Maske vorm Gesicht in die Menschenwurst am Bahnhof einreiht, in der Hoffnung, innerhalb der nächsten Stunde wenigstens bis Rialto durchzukommen, und sich abends durch unzählige verwackelte Bilder auf dem Handy wischt. Ein maskierter Venezianer ist dabei so selten wie ein Souvenirladen ohne Plastikgondel aus China.

Wer trotz der horrenden Hotelzimmerzimmerpreise zur Karnevalszeit noch etwas Urlaubsgeld übrig hat, löst ein Ticket für einen der etwa 50 Bälle, die in den vielen Palästen stattfinden. Der Durchschnittsball für Touristen, der wenig mit Antonia Sautters Luxusversion zu tun hat, ist schnell erklärt: für viel Geld ein Kostüm ausleihen. Mit Fremden an einem Tisch sitzen, bei oft wenig spektakulärem Essen, und zusehen, wie Ballerinas zu einem Menuett tanzen, bevor man selbst dem Italo-Pop auf der Tanzfläche erliegt. Und selbstverständlich wird damit geworben, dass gerade der "letzte noch lebende Casanova" unter den Gästen sei, was zur Stimmung aber wenig beiträgt. Auf Bewertungsportalen liest es sich auch so: enttäuschend, langweilig, überteuert.

Kitsch und Kommerz gehören genauso zu Venedig wie die Rialto-Brücke. Wer verstehen will, wie sich der Karneval nach seinem Wiederaufleben Anfang der Achtzigerjahre von einer Tradition zu einer Touri-Show entwickelt hat, schaut sich den "Volo dell' Angelo" an, den Engelsflug. Mitte des 16. Jahrhunderts balancierte erstmals ein türkischer Akrobat mithilfe einer Stange auf einem Seil vom Campanile, dem Glockenturm, zur Loggia des Dogenpalastes. Dieses Spektakel, damals "Flug des Türken" genannt, wurde Teil der Feierlichkeiten, bis es Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem tödlichen Unfall kam. Als die Venezianer mehr als 220 Jahre später an den tollen Tagen wieder Gefallen fanden - und das nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen - erinnerte man sich an den fliegenden Artisten und ließ 1981 einen Mann mit Trompete und Engelsflügeln vom Campanile an einer Seilwinde auf die Piazza gleiten.

In den Jahren danach wurde der Mensch durch eine Taube aus Ton ersetzt, gefüllt mit Konfetti, die sich über die Zuschauer ergoss. Bis reflexartig das geschah, was in Italien gern geschieht, wenn tote Hose herrscht, ob im Fernsehen oder im Karneval: Schöne, junge Frauen müssen her. Also segeln bis heute Schönheitsköniginnen durch die Luft oder Prominente wie die modelnde Unternehmererbin Margherita Missoni und Diesel-Gründer Renzo Rosso. Besonders schlimm war der Auftritt von US-Rapper Coolio, der 2008 zu seinem Lied "Gangsta's Paradise" über die Piazza schweben durfte. In diesem Jahr musste der Engel, immerhin eine junge Frau aus dem Stadtviertel Castello, nach ihrem Flug vor den Kameras einen Energydrink trinken. So will es der Hauptsponsor.

Die Massen sollen auf dem Festland feiern und nicht in der Altstadt

Auch ein wiederkehrendes Element der närrischen Zeit: Die Venezianer streiten sich über den Karneval. Zu voll die Gassen, dabei ist doch erst März! Selbst Antonia Sautter hadert inzwischen mit dem Geschehen, obwohl die Kostümmacherin damit gut Geld verdient. "Ich finde, dass nicht jeder für den Karneval nach Venedig kommen muss", sagt die 61-Jährige. "Sondern nur diejenigen, die ihn wirklich verstehen." So wie es seit Jahren hier zugeht, sei er ein echtes Problem. "Diese Art von Tourismus hat meine Stadt nicht verdient."

Massimo Andreoli ist einer der wenigen Venezianer, die sich aktiv dafür einsetzen, dass dieses Fest wenigstens ein bisschen venezianisch bleibt. Deshalb organisiert er seit 1999 den Einzug des Dogen. Zur offiziellen Eröffnung ziehen dann bis zu 250 Menschen, meist aus Venedig und dem Veneto, in historischen Kostümen auf den Markusplatz, ein Doge im Hermelinmantel inklusive. "Unser Carnevale darf nicht zu einer bloßen Touristenattraktion verkommen", sagt Massimo Andreoli. "Venedig ist dafür viel zu klein und zerbrechlich." Deswegen setzt er auf Authentizität und Detailtreue, damit hat er Erfahrung. Als Präsident der Organisation Cers, einer europäischen Vereinigung historischer Gruppen, stellt er mit den Mitgliedern regelmäßig geschichtliche Ereignisse nach. Damit er die Kleider so originalgetreu wie möglich schneidern lassen kann, arbeitet der 52-Jährige mit Museen und Universitäten zusammen.

Ein Hoffnungsschimmer? Sieht nicht danach aus, wenn man dieser Tage über den Markusplatz schlendert. Dort steht eine riesige Bühne, die ein U-Boot darstellen soll, aber wie eine riesige Kreissäge aussieht. Auch das diesjährige Motto ist befremdlich: "Blame the Moon". Gefeiert werden soll der 50. Jahrestag der ersten Mondlandung. Was das mit Venedig zu tun hat, bleibt so unklar wie das Wasser im Kanal.

Den meisten Touristen ist das egal: Allein für die Kostüm-Regatta vor zwei Wochen versammelten sich circa 70 000 Besucher auf den wenigen Plätzen entlang des Canal Grande. Ein neuer Rekord, meldete die Zeitung La Nuova. So voll ist es sonst nur an verregneten Tagen während der Sommerferien, wenn Strandurlauber aus Jesolo, Caorle, Bibione in die Stadt einfallen. Das war allerdings im 16. Jahrhundert ähnlich, wie auf historischen Drucken zu sehen ist. Damals wurden extra Tribünen auf den Markusplatz gebaut, damit alle einen Blick auf das Geschehen werfen können. Das wäre heute unmöglich, bei maximal 23 000 Menschen wird die Piazza gesperrt. So will es das italienische Gesetz.

Die Stadt hat die "Mi no vado via"-Rufe der verzweifelten Bewohner (auf Deutsch: "Mich kriegt ihr hier nicht weg") gehört und versucht jetzt, den Tourismus in den Griff zu bekommen. Man arbeitet an einem "besseren" Karneval und das bedeutet anscheinend: einem noch größeren. Mehr als hundert Veranstaltungen sind in diesem Jahr geboten - nicht nur in der Altstadt, sondern auch auf dem Lido und in Marghera, Mestre oder Campalto auf dem Festland. Das soll die Menschenmassen entzerren. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass die Reisegruppe aus Stockholm oder Shanghai auf einen Rundgang durch die Altstadt verzichtet, um sich einen Kostümumzug fern des Dogenpalastes anzugucken.

Dafür scheint die Handhabung der Menschenmassen besser zu funktionieren. "Ich konnte nach der Eröffnung recht problemlos durch die Calle dei Fabbri nach Hause laufen, das war vor einem Jahr noch anders", sagt Massimo Andreoli, der in der Nähe von S. Tomá wohnt. Damit der Karneval allerdings wieder Besuchern und Bewohnern gleichermaßen Spaß machen kann, bräuchte es seiner Meinung nach einen Bruch: "Ein Jahr aussetzen. Oder am besten zwei", sagt er provokativ. Früher habe man hier noch darüber diskutiert, wie es besser sein könnte, "heute fehlt den meisten die Bereitschaft dazu". Sie sind müde geworden in der schönen Stadt, deren Liebreiz zur Last geworden ist.

Zu einer Karnevalspause wird es vermutlich nicht so schnell kommen. Schließlich gibt es etwas, das die Venezianer mindestens genauso lieb haben wie ihre Stadt. "Schèi", venezianisch für Geld. Wer also auch ohne Karneval leben kann, dem sei die gute alte Venedig-Regel empfohlen: im November herkommen. Die vielen billigen Masken machen die Stadt ohnehin nicht schöner.

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SZ vom 02.03.2019/edi
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