Süddeutsche Zeitung

Vallée Blanche in Frankreich:Im Zick-Zack-Kurs durchs Gletscherfeld

Auf der rund 20 Kilometer langen Abfahrt von der Aiguille du Midi nach Chamonix erleben Skifahrer eine beeindruckende Landschaft aus Eisströmen, Felszähnen - und dem Mont Blanc. Trotzdem ist Vorsicht geboten.

Von Stefan Herbke, Chamonix

Wie ein Fels in der Brandung steht Lionel mit seinen extrabreiten Freeridelatten auf dem großen Platz vor der Talstation der auf die Aiguille du Midi hinaufführenden Seilbahn, während ringsum bunt gekleidete Freerider hektisch Richtung Gondel streben. Jeder möchte der Erste sein. Kein Wunder, der Wetterbericht verspricht einen Traumtag. Die weiße Haube des 4810 Meter hohen Mont Blanc leuchtet schon lange in der Morgensonne (während im tiefen Tal von Chamonix noch alles im Schatten liegt), darüber spannt sich ein makellos blauer Himmel.

Und das Beste: Weit und breit sind keine Schneefahnen zu sehen, sprich, es ist windstill. Perfekte Voraussetzungen für die Abfahrt aller Abfahrten: das Vallée Blanche.

An Tagen wie diesen herrscht überdurchschnittlicher Andrang. Doch für Lionel Wibault, den braungebrannten Bergführer aus Chamonix, ist das Alltag. So wie andere morgens in die Arbeit fahren, macht sich Lionel in der Früh auf den Weg zur Seilbahn, um dort seine Kunden zu treffen. Die Tickets und die Reservierung für die Gondel hat er längst organisiert, so dass der 66-jährige in aller Ruhe seine Gruppe begrüßt, von denen soeben einer beim Blick auf die kühne Trassenführung der Seilbahn den Rückzug antritt.

Auch das kennt Lionel, die Dimensionen in Chamonix sind einfach gewaltig und faszinierend, aber für manche auch furchteinflößend. Die Stadt und das Tal liegen gerade einmal auf gut 1000 Meter Höhe, die Seilbahn auf die Aiguille du Midi überwindet in nur zwei Sektionen und weniger als 20 Minuten einen rekordverdächtigen Höhenunterschied von gut 2700 Metern - und der Mont Blanc überragt die Bergstation noch einmal um weitere knapp 1000 Meter.

Ein Fest fürs Auge - und für Künstler

Für Lionel Wibault stellt die Seilbahnfahrt nichts Besonderes dar, die Berge dagegen begeistern ihn immer wieder aufs Neue. Um die hundert Mal stand er bereits auf dem Mont Blanc, das komplette Mont-Blanc-Gebiet ist sein Büro, doch er kennt den weißen Riesen auch aus einem anderen Grund wie seine Westentasche. Der Bergführer ist begeisterter Maler - und sein Lieblingsmotiv ist der höchste Gipfel der Alpen. Seit 1990 zeichnet er dieses fantastische Bergmassiv mit seinen stark zerklüfteten Gletschern und den zackenreichen Graten, immer aus einer anderen Perspektive, immer mit anderen Stimmungen. "Der Himmel, die Wolken und die Farben in diesen extremen Höhen faszinieren mich", erklärt er seine ungewöhnliche Passion.

Auf seine Touren nimmt er häufig sein Skizzenbuch mit, gemalt wird in seiner Werkstatt im Tal. Hundert Mont-Blanc-Bilder sollen es, so sein erklärtes Ziel, einmal werden. Mehr als die Hälfte sind bereits fertig ...

Heute bleibt das Skizzenbuch daheim. Für ein neues Motiv ist der strahlend blaue Frühlingstag zu unspektakulär, aber für das Vallée Blanche, die vielleicht großartigste und schönste Skiabfahrt der Alpen, ist es perfekt. Die Luft auf fast 4000 Meter Höhe ist dünn, doch manchen bleibt bereits beim Tiefblick vom Felszahn der Aiguille du Midi, auf der die zweithöchste Aussichtsterrasse der Alpen thront (3842 m), die Luft weg. Wer dann noch den schmalen, in den steilen Eishang gehackten Weg zum Start der Skiabfahrt durch das Vallée Blanche entdeckt, der überlegt kurz, ob eine Talfahrt mit der Gondel nicht einfacher wäre. Für viele stellt der mit Seilen gesicherte Abstieg die Schlüsselstelle der Tour dar. Wobei das noch harmlos ist im Vergleich zu den Runs, die Freerider gegenüber am Brévent unter die Bretter nehmen.

Mit Blick auf den Mont Blanc warten auf der Sonnenseite von Chamonix überaus fotogene, meterhohe Cliffs und steile Couloirs auf echte Könner. Kein Wunder, dass der Brévent ein Pflichtstopp auf der Freeride World Tour (FWT) ist, eine Art Weltcup für die Besten der Besten unter den Freeridern. Den Hauptanziehungspunkt für alle Tiefschneesüchtigen stellt jedoch die Grands Montets oberhalb von Argentière dar, ein kompletter Berg nur für Freerider. Rund um die Mittelstation Lognan werden ein paar Pisten präpariert, doch wer einen der raren und entsprechend begehrten Plätze in der Gondel zum Gipfel ergattert, der muss seine Bretter beherrschen.

Nach dem Motto "All you can see you can ski" starten die Runs in alle Richtungen. Am großzügigsten sind die weiten Tiefschneehänge des Glacier des Rognons, die hinunterführen zur markanten Randmoräne des riesigen Glacier d'Argentière und nach einem Abfahrtsrausch über 1250 Höhenmeter die Mittelstation erreichen - dafür nehmen passionierte Brettljünger die Wartezeiten gerne in Kauf.

"Immer in der Spur bleiben"

Zurück zur Aiguille du Midi und zum Start der Rekordabfahrt über den Géant- und Tacul-Gletscher sowie das Mer de Glace. Die Dimensionen der Gletscherbecken sind riesig, entsprechend schwer fällt die Orientierung bei Neuschnee oder Nebel. Auf den ersten Blick wirkt alles recht harmlos. Doch wer näher hinschaut, der entdeckt überall Löcher, unter denen sich riesige Spalten verbergen. "Am besten immer in der Spur bleiben", erklärt Lionel die Regeln, zu denen auch gehört, dass alle immer oberhalb von ihm stoppen. Lionel ist vorsichtig, schließlich trägt er für seine Gruppe die Verantwortung. Jeden Winter gibt es Spaltenstürze, nicht immer gehen sie glimpflich aus.

Und wenn, dann gehört auch Glück dazu, wie im Falle einer Frau, die die Anweisungen ihres Bergführers nicht befolgte, die Spur verließ und prompt in eine Spalte fiel. Der Bergführer machte sich sofort an die Bergung, doch am Ende des Seils tauchte nicht sie, sondern - welch Überraschung - ein Mann auf. Der Einzelgänger war bereits eine Stunde zuvor in den Spalt gefallen und bat daher die Frau, ihm den Vortritt zu lassen, da er schon ziemlich ausgekühlt war.

Solche Geschichten verdeutlichen auch dem selbstbewusstesten Fahrer, dass das Vallée Blanche nicht der richtige Ort für unüberlegte Experimente ist. Mit Bedacht geht auch Lionel vor. In sicherer Distanz zu den ersten Spalten folgt er der breiten Spur, die durch die vielen Skifahrer fast pistenartig eingefahren ist. An schönen Tagen im Frühjahr sollen es bis zu 2000 Wintersportler sein, die das Vallée Blanche unter die Bretter nehmen.

Auf der Terrasse des auf 2516 Meter gelegenen Refuge du Requin, die man etwa auf der Hälfte der Abfahrtsstrecke erreicht, sitzen die ersten bereits ohne Anorak und genießen ein kühles Bier - die Strahlungswärme der Frühlingssonne ist enorm. Der Steinbau thront auf einem Geländeabsatz direkt über dem mächtigen Eisbruch der Séracs du Géant, die sich wie ein riesiger gefrorener Wasserfall über eine Geländestufe wälzen. Hin und wieder knarzt und kracht es in dem Gletscherbruch, der sich im Zeitlupentempo bewegt. Trümmerfelder aus frischen Eisblöcken in Kühlschrankgröße zeigen, dass der Gletscher keineswegs in Winterstarre verfallen ist. Ein faszinierender Anblick und typisch für die Abfahrt durch das Vallée Blanche, bei der das Landschaftserlebnis eindeutig im Vordergrund steht.

Wer runter will, muss erstmal rauf

Nach einer kurzen Rast geht es steil hinunter auf den flachen Glacier du Tacul, wo die Kulisse mit dem markanten Felsturm des Aiguille du Géant mit jedem Schwung grandioser wird. Immer neue Granit- und Gletscherberge rücken ins Blickfeld, neue Eisströme tauchen auf, die sich alle zum mächtigen Mer de Glace vereinigen, dem längsten und größten Gletscher der französischen Alpen. Über drei Kilometer folgt man diesem Riesengletscher, dann wartet der sportlichste Teil eines Vallée-Blanche-Tages. Denn sobald der Schnee nicht mehr bis Chamonix reicht, endet die Traumabfahrt rund 300 Höhenmeter unterhalb von Montenvers (1913 m), der Endstation der bereits 1909 eröffneten Zahnradbahn von Chamonix zum Mer de Glace.

Ab hier geht es 398 anstrengende Stufen steil bergauf zur Talstation einer 1960 erbauten Seilbahn, die den Abbzw. Aufstieg nach Montenvers erleichtert - beim Bau reichte das Eis noch bis zur Gondelbahn. Doch es hilft nichts, außerdem genießt man von Montenvers den schönsten Blick auf den gewundenen Eisstrom. Danach ist Schluss mit der Bergidylle. Mit der Einfahrt des Zuges beginnt der Sprint um die Sitzplätze - und da wird selbst Lionel kurz hektisch.

Informationen

Auf ins Vallée Blanche: Mit der Seilbahn auf die Aiguille du Midi erreicht man den Start der berühmtesten Tiefschneeabfahrt der Alpen. Die nicht präparierte Strecke führt über riesige, teils sehr spaltige Gletscherflächen. Obwohl sie an schönen Frühjahrstagen stark frequentiert wird, sollte man sie nur mit entsprechender alpiner Erfahrung oder in Begleitung eines Bergführers machen. Preis inklusive Sitzgurt und Verschüttetensuchgerät: ab 82 Euro pro Person (bei einer Gruppe von vier Personen), mit Skipass 139 Euro pro Person. Info: chamonix-guides.com

Auf ins Powdervergnügen: Der 46 Euro teure "Chamonix Le Pass" öffnet die Drehkreuze der Skigebiete Brévent/Flé gère, Balme und Grands Montets. Achtung: Die Sektion Lognan - Les Grands Montets kostet extra. Im 56,50 Euro teuren Skipass "Mont Blanc Unlimited" sind auch die Seilbahnen Lognan - Les Grands Montets, Aiguille du Midi sowie die Zahnradbahn von Chamonix nach Montenvers inbegriffen.

Auf in die Sportstadt: Weitere Informationen zu den Bergbahnen und Skigebieten rund um Chamonix unter compagniedumontblanc.com, zu Hotels und Aktivitäten unter chamonix.com

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Christian Haas/Outsides, eine Sonderveröffentlichung der Süddeutschen Zeitung/cag
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