Süddeutsche Zeitung

Val Thorens in Frankreich:Aus dem Nichts zum höchsten Skiort Europas

Val Thorens wurde in den Siebzigerjahren für den Massentourismus aus dem Boden gestampft. Doch die Fehler anderer Retortendörfer hat man hier nicht gemacht.

Von Nadine Regel

Wie das Belleville-Tal vor dem Skitourismus war, sieht man in Thierry Suchets Restaurant. Ein Kuh-Gemälde hängt auffällig an einer weiß verputzten Wand. Daneben steht ein Regal mit alten Schöpfkellen und Milchkannen. Gerahmte Schwarz-Weiß-Bilder zeigen Ziegen auf der Weide, riesige Käselaibe, barfüßig spielende Kinder vor kleinen Steinhäusern und einen älteren Herrn mit schwarzer Baskenmütze auf dem Kopf. "Das ist mein Großvater - Pépé Nicolas", sagt Thierry Suchet. Der war in den Sechzigerjahren Bürgermeister in Saint Martin, dem Verwaltungssitz im Tal - und ist heute Namensgeber des Restaurants. "40 Prozent der Menschen im Belleville-Tal waren damals gegen die Errichtung der Lifte und Hotels", sagt der 54-Jährige. Trotzdem schaffte es sein Großvater, die Erschließungspläne bei den Bewohnern durchzusetzen.

Das war der Startschuss für eine enorme Entwicklung. Aus einem armen Tal hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte eine der beliebtesten Skiregionen der Alpen entwickelt. Das Belleville-Tal gehört heute zum Skiverbund Trois Vallées, der sich mit seinen 600 Pistenkilometern rühmt, das größte zusammenhängende Skigebiet der Welt zu sein. Die Beweggründe lagen damals auf der Hand: "Man musste etwas gegen die Abwanderung von jungen Menschen tun", sagt Thierry Suchet.

Im Nachbargebäude des Restaurants, einem winzigen Steinhäuschen, lebten seine Großeltern im Sommer, wenn die Ziegen auf der Weide grasten. Viel Platz war nicht: eine Kammer mit Bett, eine Feuerstelle, ein Tisch mit zwei Stühlen. Das Haus ist noch im Originalzustand. Die Bauern im Tal standen damals mit einem Mal vor der Entscheidung, ob sie ihr Land verkaufen sollten. "Für sie war alles außerhalb des Tales unbekannt", sagt Thierry Suchet. Sein Großvater, der Bürgermeister, schickte den Priester vor, der auf die Bauern einredete. Man versprach den Menschen neue Jobs und Perspektiven. "Aus Bauern sollten Skilehrer werden - das war schwierig zu vermitteln", sagt Suchet.

Saint Martin zeugt noch von dieser Zeit. Der Ort ist natürlich gewachsen, die touristische Erschließung hat nicht viel am ursprünglichen Erscheinungsbild geändert. In der Skisaison von November bis Ostern beherbergt Saint Martin etwa 5000 Gäste. Vorrangiges Baumittel sind grauer Stein und Holz. Die Kirche steht im Zentrum, rundherum sind kleine Wohnhäuser; Chalets, Ferienwohnungen und familiär geführte Hotels reihen sich unauffällig in das Bild ein. Diese Exklusivität kostet. Saint Martin ist der teuerste Ort im Tal. 50 000 Betten gibt es hier, aufgeteilt auf drei Dörfer, von denen damals nur Saint Martin existierte. Les Menuires und Val Thorens mussten erst gebaut werden. Diese Art der strategischen Erschließung fand aber nicht nur im Belleville-Tal statt. Thierry Suchets Großvater hatte von den Erfolgen auf der anderen Seite des Berges gehört: Was in Meribel und Courchevel funktioniert hatte, musste doch auch hier klappen, so der Gedanke. "Copy und Paste, wie die Chinesen", sagt Suchet und lacht.

Und es hat funktioniert. "Die Menschen hatten damals nichts", sagt Suchet. Heute habe jeder einen Job. Im Winter betreibt Suchet sein Restaurant, im Sommer bewirtschaftet er zusätzlich die kleine Alm. Drei Monate im Jahr hat er auch besondere Urlaubsgäste. Mit einem Lastwagen holt er Ziegen aus dem 60 Kilometer entfernten Albertville und bringt sie auf die Alm. "Der Besitzer hat sie 200 Tage im Jahr, den Rest machen sie Ferien bei uns", sagt Suchet. Für ihn ist das mehr als Folklore. Er ist gerne Bauer: "Das ist Teil meiner DNA."

Der Kontrast könnte nicht größer sein. Val Thorens, der Ort ganz hinten im Tal, gelegen auf 2300 Metern, ist auf dem Reißbrett entstanden und 1971 eröffnet worden. Ein Retortenort zum Zweck, im Winter möglichst viele Menschen zu beherbergen. Damals wusste aber keiner, ob sich die Investitionen überhaupt lohnen würden. "Im ersten Jahr stürmte es oft so sehr, dass wir tagelang nicht rausgehen konnten", sagt Christine Goitschel. Die heute 74-Jährige kam mit ihrem Mann und etwa zwei Dutzend anderen Skibegeisterten Anfang der Siebziger Jahre nach Val Thorens. Goitschel sollte als ehemalige Olympiasiegerin im Slalom als Aushängeschild für das neue Gebiet dienen. Die hochgewachsene Frau mit kurzen, weißen Haaren hat einen festen Händedruck. Tief eingesunken sitzt sie auf einem Sofa im Café Alpen Art. Ein stilvolles Café, vom Interieur bis zur Pâtisserie. Das ist es, was Val Thorens wohl auszeichnet - es bietet die Kulisse für einen Skiurlaub wie aus dem Prospekt.

So ambitioniert das Projekt auch war - die Gäste blieben zunächst aus. Val Thorens galt mit 2300 Metern als zu hoch gelegen und deswegen zu gefährlich. "Die Gemeinschaft, die hier oben lebte, glaubte aber ganz fest daran, dass es klappen würde", sagt Goitschel. Erst mit der Eröffnung des Lifts zum Cime de Caron auf 3200 Meter zehn Jahre später seien mehr Skifahrer gekommen.

Heute ist Val Thorens als höchstgelegener Skiort Europas international bekannt. Über 150 Kilometer winden sich Pisten die Hänge hinab. Trotzdem sind sie selten überfüllt, so weitläufig ist das Gelände. Der Ort liegt eingerahmt in eine gewaltige Bergwelt, deren Gipfel bis auf über 3500 Meter reichen. Er ist terrassenartig an einen Hang gebaut. Aus Platzmangel musste man in die Höhe bauen. In der Hochsaison im Februar übernachten bis zu 27 000 Menschen im Ort.

Bei genügend Schnee erreicht man die meisten Gebäude mit Skiern. Ein Vorteil des konstruierten Skigebietes. Auch was die Architektur angeht, hatten die Gründer eigene Vorstellungen. "Wir wollten es besser machen als in anderen Gebieten zu der Zeit", sagt Christine Goitschel und meint damit das benachbarte Les Menuires, dessen Hotels aus der Anfangszeit Bettenburgen des Massentourismus sind. Die Gebäude sollten schöner werden, Holzbalkone dominieren nun das Bild. Obwohl Val Thorens eher jüngeres Publikum anzieht, hält sich das Après-Ski in Grenzen. Keine Leuchtreklame, keine unangenehme Musik, dafür unzählige Sonnenterrassen und sehr gute Hütten. Sie sind geschmackvoll eingerichtet, statt Pommes und Wienerschnitzel gibt es Käsefondue oder Platten mit französischen Wurst- und Käsespezialitäten, dazu sehr gute Weine. Man fühlt sich manchmal eher wie in einem kleinen Restaurant in der Provence als in einer gut besuchten Hütte mitten im Skigebiet. Christine Goitschel ist mit dieser Entwicklung sehr zufrieden. Skifahren möchte sie hier aber nicht mehr: "Es ist mir zu viel los auf den Pisten."

Die neue Generation von Skifahrern im Tal ist eher neben den Pisten unterwegs. Das Bellevile-Tal ist ein beliebtes Freeride-Gebiet mit unzähligen Skirouten. Kevin Guri ist das Aushängeschild der hiesigen Freerider-Szene - stilecht mit stark gebräuntem Gesicht und weißem Abdruck der Skibrille. Der 29-Jährige ist ein Star im Tal, weil er im Jahr 2013 den Tagessieg bei der Freeride World Tour in Verbier gewann - die schwierigste Abfahrt der Weltmeisterschaft im Tiefschneefahren. Mittlerweile fährt er keine Wettbewerbe mehr, kümmert sich aber um den Nachwuchs. Er betreut die schneebegeisterten Jungs und Mädchen, zeigt ihnen, wie sie sich im freien Gelände sicher bewegen und wie man die beste Linie für eine steile Abfahrt aussucht - und bereitet sie so auf die Wettbewerbe für die WM vor.

Guri lebt das ganze Jahr über in einem kleinen Dorf nahe Saint Martin und arbeitet in Val Thorens. "Das Potenzial von starken Skifahrern ist hier sehr groß", sagt er. Im Belleville-Tal fährt fast jeder von Kindesbeinen an Ski und hat beruflich mit dem Skitourismus zu tun. Im Februar ist Hauptsaison. Im März und April ist es ruhiger, und die Bedingungen sind trotzdem noch sehr gut. "Wer kann, sollte besser in dieser Zeit nach Val Thorens kommen", sagt Guri. In Frankreich sei Skifahren, anders als in Österreich, kein Breitensport: "Viele kommen nach Val Thorens ohne richtig Skifahren zu können, nur um dann zu Hause davon zu berichten." Für ihn ist das Belleville-Tal jedenfalls mehr als nur eine konstruierte Skiwelt.

Reiseinformationen

Anreise: z.B. mit dem Flugzeug nach Grenoble und von dort mit Mietwagen oder Shuttle weiter ins Belleville-Tal. Mit dem Auto ist man von München bis Val Thorens etwa acht Stunden unterwegs.

Skifahren: Das Skigebiet Trois Vallées umfasst 600 Pistenkilometer und acht Skigebiete. Ein Tagespass kostet 63 Euro, sechs Tage kosten 312 Euro, les3vallees.com

Unterkunft: z.B. Alp'Hôtel in St. Martin, DZ mit Frühstück ab 125 Euro, alphotel.fr; Hotel Le Pashmina in Val Thorens, DZ mit Frühstück ab 250 Euro, hotelpashmina.com

Weitere Auskünfte: valthorens.com, lesmenuires.com

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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SZ vom 30.01.2020/ihe
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