USA-Reisen:Lebe wohl, New York

50 Jahre lang reiste unser Autor regelmäßig nach Manhattan, denn seine Kinderträume hatten es ihm aufgegeben. Ein Abschied.

Hermann Schreiber

"Ein leises Vibrieren, ein heimliches, unirdisches Gesumm, ein paar Namen, ein paar Herzen, die Pfeile durchbohren, eingeritzt in das Glas der dicken, fest verschraubten Scheiben - und dahinter, darunter die Stadt, Manhattan, Babylon, die Stadt der Städte. Als der Mensch solche Ansiedlungen erfand, muss er dieses Bild vor Augen gehabt haben, dieses immanente Absolutum aus Stein und Stahl und Glas, diese grandiose, gottlose Wüstenei seiner selbst."

Das habe ich vor fast fünfzig Jahren auf dem Empire State Building notiert, 102.Stockwerk, second observatory, überwältigt von diesem Blick auf New York. Es war meine erste Begegnung mit Manhattan. In späteren Jahren bin ich als Reporter so oft in New York unterwegs gewesen, dass ich irgendwann aufgehört habe, zu zählen.

Damals war ich als junger Journalist in Begleitung einer Delegation des Deutschen Bundestages nach Washington geschickt worden, bin dort aber zwei Tage lang ausgebüxt und mit dem Bus nach New York gefahren. Ich musste endlich meine Traumstadt sehen.

Ich bin ein Kriegskind, Jahrgang 1929, glücklich davongekommen von fast allem, was mir in den letzten Wochen des Krieges hätte passieren können. Dann kamen die Amerikaner, die in meiner süddeutschen Heimat die "Besatzer" waren, sie haben uns zu essen gegeben, später auch zu lesen und ein paar von den Jazzplatten, die wir aus den "Feindsendern" und nun aus dem AFN, American Forces Network, kannten, sogenannte V-Discs der US-Army, die wir eigentlich nicht haben durften.

Die Amerikaner hatten auch gut geheizte Stuben für uns, und dort lagen dicke Zeitschriften mit Bildern aus einer Welt, die wir in unsere Wahrnehmung nicht anders einordnen konnten denn als Träume: frohe, wohlgenährte Menschen in glitzernden Autos zwischen unzerstörten und unglaublich hohen Häusern. Von solchen Bildern zehrte unsere Phantasie, wie wir selber von dem süßen runden Gebäck mit dem Loch in der Mitte, von dem meistens etwas für uns übrig war.

Das war der Stoff, aus dem unsere Träume waren. Ich habe mir New York erträumt - wie als Kind die Zauberburgen aus den Märchen und Sagen. In meinen Träumen wurde das New York der Glitzerfotos zu Avalon und zu Camelot, wo ein Zauberer in grauer Vorzeit ein Schwert in den Felsen rammte, das dem, der es herausziehen konnte, gewaltige Macht verlieh.

Ich war, gebranntes Kriegskind, zu beschädigt von den Realitäten, um dem Wahn von der Macht durch das Schwert anheimzufallen. Aber ich war fasziniert von Camelot, von meinem erträumten New York.

Lebe wohl, New York

Als ich zehn Jahre später, zum ersten Mal nicht nur im Traum, nach New York kam, da war erst mal nur diese Überwältigung - ein stolpernder, fassungsloser Versuch, Dimensionen zu begreifen, Höhen zu erkennen, Orientierung zu gewinnen.

Wohl verspricht der Stadtplan geometrische Übersichtlichkeit, aber er verrät nichts von der klaffenden Tiefe der pfeilgeraden Avenues, die endlose Furchen in die steinerne Kruste Manhattans reißen. Eine Weile schwimme ich planlos mit in den hastenden, frontal aufeinanderzustrebenden Strömen der Fußgänger, bis am Abend die Augen schmerzen von den steilen Lichterketten, bis der Hals steif wird und die Füße brennen.

Alles Menschliche im Ausnahmezustand

Aber geahnt habe ich damals schon, dass es nicht so sehr die Dimensionen sind, die meinen Puls beschleunigen, auch nicht nur der erregende Anblick dieses Gemischs der Völker und der Rassen, sondern eher der Ausnahmezustand, dem alles Menschliche in dieser Lage ausgeliefert sein muss: die Verwandlung menschlichen Daseins unter den Bedingungen dieses luziferischen Ausbruchs der Superlative, dieser äußersten zivilisatorischen Möglichkeit, die New York heißt - eine unglaubliche Verlockung.

Noch immer ist der berühmteste Stadtschlager Sinatras weithin überstrapaziertes Aufsteigerdrama "New York, New York": ein ehrgeiziger Provinzler verkündet, dass er nun nach New York gehe, um dort endlich dazuzugehören und jemand zu werden.

Den Provinzmief will er loswerden ("these little town blues are melting away") und aufwachen in der ruhelosen Stadt, entdecken, dass er ganz oben ist. Dazu müsste er freilich ein paar Millionen Dollar extra mitbringen, die man hier leicht loswerden kann, wenn man - aufgrund bereits vorhandener Millionen - dauerhaft in der Kategorie "A Number One, Top of the List" geführt werden will.

Fluchtpunkt für Aufsteiger

Aber die Illusion hat Schule gemacht - als "If I can make it there, I'll make it anywhere"-Syndrom, von dem weltweit Tausende junge Möchtegern-Aufsteiger beiderlei Geschlechts nach New York gelockt werden, "to make a brand new start of it".

Brecht hat in der "Dreigroschenoper" dieses Syndrom als eine Art Dienstmädchen-Phantasie seiner Seeräuber-Jenny zugeschrieben. Sie wäscht die Gläser und macht "das Bett für jeden" in einem lumpigen Hotel, aber sie träumt davon, dass eines Tages "ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen" am Kai liegen und auf ihr Kommando die Stadt, mindestens den King on the Hill, in Grund und Boden schießen und dann mit ihr entschwinden wird.

Gut, das ist eine andere Geschichte. Aber so anders nun auch wieder nicht. Die New Yorker wissen wohl, was Gewalt ist, haben es immer gewusst, lange bevor sie am 11. September 2001 davon apokalyptisch heimgesucht worden sind.

Oder ist es Zufall, dass der Provinzler, der den New-York-Song weltberühmt gemacht hat, eben jener Francis Albert Sinatra aus Hoboken, New Jersey, hier und anderswo auch deshalb Top of the List und A Number One geworden ist, weil er ein paar Freunde an seiner Seite hatte, verglichen mit deren Machtstrukturen ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen bloß Spielzeug wäre?

Lebe wohl, New York

Dabei geht es in New York in erster Linie nicht um Macht, sondern ums Überleben. John V. Lindsay, nur von Minderheiten gestützter Bürgermeister in den sechziger Jahren, als diese Stadt die Grenze der Lösbarkeit ihrer Probleme erreicht zu haben schien, ein liberaler Mann nach der Mode mit einem gefriergetrockneten TV-Lachen, hat es damals so gesagt: "The name of the game heißt in New York nicht Macht, sondern Selbstverteidigung. Was hier gespielt wird, läuft für den durchschnittlichen Einwohner darauf hinaus, seine persönliche Freiheit gegen die Verletzung durch spezielle Interessengruppen verteidigen zu müssen, die pausenlos in eigensüchtige Positionskämpfe verwickelt sind."

Daran hat sich so viel nicht geändert seither. New York ist immer noch ein Kampfplatz, nicht nur dort, wo die "Executives" der Interessengruppen sitzen, auch ein paar Dutzend Stockwerke tiefer, auf den Straßen.

Lärm ist hier eine Waffe, man braucht Stahl in der Stimme und Training in Disco-Lautstärke, um nicht buchstäblich unerhört zu bleiben im Brüllen der Schwerstlaster, die ständig durch die Stadt kreuzen, im Kreischen der Baumaschinen und im Maschinenschrei der Polizeifahrzeuge, der Ambulanzen und der Feuerwehrautos, denen noch ein paar Varianten antrainiert worden sind: Teufelstriller, geiles Gegluckse, obszöne Lustschreie.

Sex als Waffe

Sex ist, soweit vorhanden, auch eine Waffe hier, so unverblümt direkt und oft auch so fern jeder Ästhetik wie wohl nirgendwo sonst (in den Shows am Broadway heißt das "titts and ass").

Tempo ist natürlich eine Waffe hier, sofern der zweimal täglich zur Rushhour eintretende Rigor mortis auf den ewig kaputten Fahrbahnen und den blockierten Kreuzungen nicht jede Bewegung in kochenden Stillstand verwandelt. Aber was soll's - auch Besserverdiener fahren wieder U-Bahn, denn " the subway has been cleaned up".

Anfang der sechziger Jahre noch haben Nathan Glazer und Daniel Moynihan, die bedeutendsten Urbanologen in den Diensten Harvards wie Washingtons, in ihrem berühmten Buch "Beyond the Melting Pot" davon geträumt, dass New York eben kraft seiner Offenheit für neue Gruppen und kraft seiner gleichhändigen Verteilung der gebotenen Chancen sowohl die rassischen wie die ethnischen Minderheiten assimilieren und schließlich absorbieren werde. Zehn Jahre später haben sie diese Grundthese ihres Buches in einer neuen Einführung praktisch widerrufen: "It didn't happen."

Lebe wohl, New York

Nein, es ist nicht passiert, bis heute nicht. Aber es ist noch eine Menge mehr nicht passiert, was dann, belegt durch viele Statistiken und Untersuchungen, vorhergesagt worden ist: der soziale Tod New Yorks, der finanzielle wie der menschliche Zusammenbruch dieses Gemeinwesens unter dem Druck der Unlösbarkeit seiner Probleme, der offene Krieg zwischen Arm und Reich, die Unkontrollierbarkeit der Straßenräuberei und des Rauschgifthandels, die Versteppung ganzer Stadtteile nach der Flucht ihrer bürgerlichen Bewohner.

Es ist dies alles nicht passiert. Man kann schon lange wieder im Central Park spazieren gehen, ohne sich vor Dieben und Exhibitionisten hüten zu müssen, man kann auch als Weißer wieder in Harlem herumlaufen, sogar nach Einbruch der Dunkelheit.

Der Times Square ist keine heruntergekommene Pornomeile mehr, und wo Versteppung drohte, wird wieder gebaut oder renoviert. Ich kenne auch niemanden mehr, der oder die, wie damals, nachts ihre Wohnung mit Balken verbarrikadieren. Man kann also wieder angenehm leben in New York, wenn schon zu gewaltig gestiegenen Preisen.

Fragt man die New Yorker, wie das alles denn geschafft worden sei, fällt immer wieder der Name Rudy Giuliani, des Bürgermeisters auch zur Zeit der 9/11-Katastrophe. "Zero tolerance" sagen die einen, die anderen sagen nur, Giuliani habe eben einen "verdammt guten Job" gemacht.

Der Versuch, eine präzisere Antwort zu bekommen, hätte wenig Sinn. New York existiert zu jeder Zeit nur im Präsens. Große Teile der Stadt werden in nahezu ununterbrochenem Wechsel durch neue Stadtteile abgelöst. Was abgeschrieben ist, wird irgendwann auch abgerissen, und was an der Stelle neu entsteht, das bestimmen lokale Gegebenheiten (und der zu erwartende Profit).

Kaum Interesse für die Vergangenheit

Die New Yorker interessieren sich ohnehin wenig für ihre Vergangenheit. Selbst Ground Zero ist jetzt nur noch eine gigantische Baustelle, wie es in New York viele (vielleicht nicht ganz so große) gibt; kürzlich hat man sich nach einigem Zögern entschlossen, ein paar erhalten gebliebene Stufen aus einem der beiden Türme in den Weg zu dem geplanten unterirdischen Museum einzubauen.

Die Zukunft der Stadt ist zumindest dem durchschnittlichen Amerikaner, der hier nicht lebt, eher egal. New York ist ja nicht Amerika. Schon Thomas Jefferson hat (1787) die großen Städte "eine Pest für die Moral, die Gesundheit und die Freiheit des Menschen" genannt. So denken unzählige Amerikaner in der Mitte des Landes immer noch.

Selbst Norman Mailer, der hier 1969 gleichwohl Bürgermeister werden wollte, hat New York "eine biblische Stadt" genannt, "die gefallen ist aus der Gnade Gottes", wenn sie denn je dort gewesen sein sollte. Dies ist Babylon. Aber nichts und niemand auf der Welt wird diese Stadt je übertreffen, wird sie je überwachsen, da mögen die Scheichs oder die Chinesen oder die Russen Türme bauen, so hoch sie wollen. New York ist und bleibt die Stadt an sich, die urbs ultima, the city to end all cities.

Lebe wohl, New York

Ich bin in diesen fünfzig Jahren nie mit dem Schiff nach New York gefahren. Das kann man sich in meinem Beruf erst als Pensionär erlauben. Aber die Form der Annäherung hat Einfluss auf den Umgang mit dem Objekt der Annäherung, sie verändert zumindest die Perspektive, in diesem Fall meinen Blick auf New York.

Wenn einer leichthin von der großen weiten Welt geredet hat, in der er ständig unterwegs war, dann dämmert ihm jetzt, dass er nicht wusste, was er da gesagt hat; dass er sowohl von der Größe als vor allem von der Weite nur sehr abstrakte, geradezu inhaltsleere Vorstellungen gehabt hat.

Wer aber Tag und Nacht den Ozean und nichts als den Ozean sieht, der in scheinbar gleichförmiger Bewegung am Schiff vorbeizieht, der bekommt eine andere Vorstellung von Weite. Und wen weite Horizonte fasziniert haben (wie mich die friesischen zum Beispiel), hinter denen es doch immer irgendwie bekannt weitergeht, der muss auf dem Atlantik begreifen, dass der Horizont nur einen Strich zieht, hinter dem noch mehr Weite kommt und dann noch mehr.

Die Phantasie setzt Grenzen, wo gar keine sind - besonders wenn der Nebel sich aufs Wasser legt, das Schiff einhüllt und ins Nirgendwo fahren lässt.

Ich habe New York anders gesehen, als ich nun zum ersten Mal die Chance hatte, Körper und Seele gleichzeitig dort ankommen zu lassen. Ich habe den Traum von einst gar nicht mehr gesucht. Die Realität war mir näher, und ich war zufrieden. Aus der Traum.

"Am schönsten ist die Stadt", hat ein träumender Henry Miller einmal geschrieben, "im Aufbruch des frühen Abends, wenn das vom Tode gekitzelte Rückgrat die Morsezeichen der Liebe durch alle Nervenzellen telegraphiert und am Broadway die Lautsprecher in gigantischer Lautstärke antworten."

Zur Heimreise legt unser Schiff im Licht des späten Nachmittags ab, wenn die Turmbauten der Südspitze Manhattans, trotz dieser schrecklichen Lücke in der Skyline, wo die Zwillingstürme waren, seltsam sanft erscheinen und schließlich ganz in der Dämmerung verschwinden - als wären sie wirklich nur geträumt.

Sind wir nicht, Shakespeare hat es gesagt, "vom selben Stoff, aus dem die Träume sind, und unser kleines Leben deckt ein Schlaf"?

Gute Nacht, New York. Und lebe wohl.

Der Journalist Hermann Schreiber, 78, war Kolumnist für den Spiegel, Chefreporter und Chefredakteur von Geo. 14 Jahre lang moderierte er regelmäßig die NDR Talk Show. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zuletzt "Henri Nannen" (2001) und "Kanzlersturz" (2005).

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