"Harriet Tubman Byway":Kämpferin mit dem Mut zur Flucht

"Harriet Tubman Byway": Harriet Tubman (1820-1913) gelang 1849 die Flucht aus der Sklaverei.

Harriet Tubman (1820-1913) gelang 1849 die Flucht aus der Sklaverei.

(Foto: mauritius images/Science Source)

Harriet Tubman entkam aus der Sklaverei und half später vielen anderen. Ihre Biografie hat nun doch keinen Oscar bekommen, sehenswert bleibt sie - ebenso wie ihr Lebensweg in Maryland, dem Reisende mit einer App folgen.

Von Anja Steinbuch und Michael Marek

Maryland, September 1849: Eine junge Frau liegt im Gras und träumt sich in die Freiheit. Araminta Ross ist 27 Jahre alt, schwarz und Sklavin, seit sie auf der Brodess Farm geboren wurde. Wie ihre Mutter arbeitet sie als Pflügerin auf einer Plantage. So beginnt der Kinofilm "Harriet": kein Action- oder Abenteuerfilm, kein Rache-Western wie "Django Unchained", kein Blockbuster mit den üblichen Verdächtigen wie Halle Berry, Morgan Freeman oder Christoph Waltz. Im Verlauf des Films wird Araminta Ross von der Farm fliehen. Sie wird sich fortan Harriet Tubman nennen - und zur Fluchthelferin für Sklaven werden. Die Titelrolle des Films spielt Cynthia Erivo, sie war in der Kategorie Beste Hauptdarstellerin für einen Oscar nominiert.

Harriet Tubman kämpfte für die Rechte der Frauen und die der Schwarzen. In den USA kennt sie fast jeder. Vielleicht auch deshalb hat Regisseurin Kasi Lemmons auf einen mit Stars besetzten Cast verzichtet. Die Brodess Farm gab es tatsächlich, genauso den General Store in Bucktown, das Courthouse und den Schiffsanleger für Sklaven in Cambridge - Orte, die nicht nur Teil der Filmhandlung sind. Sie sind Etappen auf einer 230 Kilometer langen Rundfahrt, die Historiker zusammengestellt haben: den Harriet Tubman Byway.

Tubman Country - so nennen die Bewohner stolz diesen Landstrich an der Ostküste der USA. Hier, auf einer Landzunge zwischen Chesapeake Bay und Atlantik, wurde Tubman 1822 geboren, misshandelt und zur Knochenarbeit auf den Feldern gezwungen. Hier fasste sie den Entschluss, zu fliehen. Das Bild, das auf dem Buchdeckel der berühmten Biografie von Sarah H. Bradford zu sehen ist, zeigt eine zierliche, nur 1,50 Meter große Frau mit entschlossenem Blick.

Der Harriet Tubman Byway führt vorbei an verlassenen Sklavenorten und Sumpfgebieten, durch Kiefernwälder und Marschland. Erste Station und Herzstück der Tour ist das Harriet Tubman Underground Railroad Visitor Center. Das Museum liegt südlich von Church Creek auf einer Waldlichtung. Zu dem 2017 eröffneten Gebäudekomplex kommen täglich Menschen aus der ganzen Welt. Als Barack Obama vor fünf Jahren persönlich den Startschuss für Park und Museum gegeben hatte, war die Euphorie groß: Der damalige Präsident hatte sogar den gesamten 190 Hektar umfassenden Landstrich östlich der Chesapeake Bay zum Nationalpark erklärt. Die Obama-Administration war es auch, die auf dem neuen 20-Dollar-Schein Tubman zeigen wollte - anstelle des umstrittenen einstigen Präsidenten und Sklaverei-Befürworters Andrew Jackson. Die Trump-Regierung verschob die Entscheidung auf 2028.

Rangerin Angela Crenshaw trägt die typisch beigegrüne Nationalparkuniform mit Wappen. Immer wieder werde sie gefragt, wo denn die U-Bahn sei, wo man die Tunnel und Züge sehen könne. Die Mittdreißigerin blickt belustigt. "Ich erkläre dann, dass es sich um eine Untergrundbewegung handelt, die sich für die Befreiung der Sklaven und die Rechte der Afroamerikaner einsetzte."

Underground Railroad ist eine Metapher für ein Netzwerk von Helfern, geheimen Verstecken und verschlüsselten Nachrichten. Die Organisation diente dazu, entlaufene Sklaven in sichere Staaten zu schleusen. Sie existierte in Nordamerika von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Bürgerkriegs. Das Vokabular des Eisenbahnwesens diente als Tarncode: Man sprach von Bahnhöfen, Stationsvorstehern, Passagieren und Schaffnern. Genau hier im Niemandsland verlief die wichtigste Verbindung zwischen den Südstaaten, in denen es die Sklaverei noch gab, und den Nordstaaten, wo Ex-Sklaven wie Harriet Tubman in Freiheit leben konnten.

Im Museum zeigt Crenshaw ein Ruderboot, mit dem Sklaven einst flüchteten, dazu Exponate wie Ketten und Peitschen der Aufseher. Im nächsten Ausstellungsraum ist die Landschaft unter einem Nachthimmel mit Polarstern nachempfunden. Alles soll so aussehen wie zu Tubmans Zeiten.

Im kleinen Kino des Museums läuft der Film "Harriet". Tina Wyatt hat ihn sich gerade erneut angeschaut. Sie ist die Ururur-Großnichte von Harriet Tubman. Für die 65-Jährige hat sich ein Lebenstraum erfüllt: Der erste Spielfilm über ihre berühmte Verwandte hat es in die Kinos geschafft - weltweit! Eine späte Genugtuung, mehr als 100 Jahre nach dem Tod der Sklavenbefreierin. Sie engagiert sich seit vielen Jahren für das Museum und die historische Aufarbeitung ihrer Familienbiografie, in der "Tante Harriet", wie sie sie nennt, eine zentrale Rolle spielt. Tina Wyatt spricht langsam, mit fester Stimme. Sie hat einen freundlichen Blick und eine Entschlossenheit, die auch Harriet Tubman auf den historischen Fotografien ausstrahlt.

"Harriet Tubman Byway": Im Film wird Harriet Tubman von der Schauspielerin Cynthia Erivo dargestellt, sie wurde für einen Oscar nominiert.

Im Film wird Harriet Tubman von der Schauspielerin Cynthia Erivo dargestellt, sie wurde für einen Oscar nominiert.

(Foto: Focus Features)

Der Film, sagt Wyatt, gehe ihr sehr nah, auch wenn er allein auf den Widerstand von Harriet Tubman fokussiert sei. "Sie hat schließlich noch so viel mehr erreicht. Harriet konnte weder lesen noch schreiben, aber sie war eine ausgezeichnete Strategin. Sie hatte diese Bauernschläue und konnte auch witzig sein, und sie führte jeden in die Freiheit, der mitkommen wollte." Sie wisse, dass der Hollywood-Film keine Dokumentation sei, sagt Tina Wyatt. Aber sie hoffe auf die Strahlkraft des Werks: "Er animiert, die ganze Geschichte rund um die Underground Railroad zu erfahren."

Auf einem zweispurigen Asphaltband geht es von Church Creek nach Bucktown. Immer dabei: die App zum Harriet Tubman Byway, die 36 Schauplätze der Sklaverei ausweist - Marktplätze, auf denen Sklaven-Auktionen stattfanden, Wohnhäuser von Fluchthelfern, Kanäle, die als Fluchtweg dienten, alles mit altbackenem US-amerikanischem Pathos.

Das Dorf Bucktown besteht aus einer Farm, ein paar Häusern und dem Bucktown General Store. Drinnen räumen Susan Meredith und ihr Mann auf, gemeinsam haben sie das kleine Holzhaus restauriert. Die Inneneinrichtung ist aus dem 19. Jahrhundert. Auf einem Herd steht noch die Teekanne, im Regal stapeln sich Schachteln für Saatgut. Susan Meredith erzählt von einem Vorfall, der ein Wendepunkt in Tubmans Leben war. "Ein Sklavenjunge kam in den Laden gerannt, hinter ihm der Aufseher Thomas Barnett. Um den Jungen aufzuhalten, warf Barnett ein Zwei-Pfund-Gewicht nach ihm, traf aber Harriet an der Stirn." Die Wunde über der Schläfe blutete zwei Tage lang. Aber Tubman überlebte. Zeit ihres Lebens plagten sie Schmerzen, Ohnmachtsanfälle, gleichzeitig wuchs ihr Gottvertrauen. "Das war nicht ich", antwortete sie auf die Frage, wie sie nachts auf ihren Befreiungsaktionen den Weg fand: "Gott hat ihn mir gezeigt."

Vom General Store von Bucktown geht es noch weiter Richtung Westen, in den Blackwater National Park. Nach einer knappen halben Stunde erreicht man das Naturschutzgebiet. Der Zufluchtsort für Zugvögel beherbergt viele bedrohte Pflanzen- und Tierarten. Der zentrale Aussichtspunkt endet an einem großen Steg mit Holzgeländer und Ferngläsern. Eine wilde, grüne Marschlandschaft. Weißkopfseeadler haben hier ihr Revier. Kahle, abgestorbene Baumstämme ragen in den Himmel. Zu Harriet Tubmans Zeiten bauten die Farmer an den trockeneren Stellen Tabak, Baumwolle, Flachs und Mais an.

Die Sonne steht jetzt fast senkrecht am Himmel. Die Luft ist schwer geworden. Im Hintergrund durchkämmt ein Reiher mit langen Schritten den Sumpf. Die App leitet über ein paar einsame Straßenkreuzungen Richtung Osten. In der gleißenden Sonne taucht das Gelände der Brodess Farm auf. Doch nur ein windschiefes Hinweisschild und ein Zaun erinnern an die historische Bedeutung. Der Farmer Edward Brodess war der Besitzer von Harriets Mutter. Laut Kaufvertrag gehörten ihm damit auch ihre Kinder. Harriet und ihre Familie schufteten hier viele Jahre. "Sklaven werden immer Sklaven bleiben, und deine Kinder werden mir gehören, genau wie du mir gehörst!", sagt Edward Brodess im Harriet-Film - und spricht damit aus, was die damals knapp 27-jährige Harriet Tubman aufbegehren ließ. In der Kirche hatte sie gelernt, dass alle Menschen gleich sind. Nun sollten ihre Kinder als Sklaven geboren werden? Das war für sie undenkbar.

Araminta Ross kehrte nach der Feldarbeit nicht zurück, sondern schlug sich allein nach Norden durch. Die Handy-App verleiht dem Abschiedsschmerz Ausdruck mit einem bekannten Gospel-Song. Eine Frauenstimme singt: "I will meet you in the promised land!" Dieses Land hieß Freiheit. Harriet begab sich auf die Underground Railroad, auf eine lebensgefährliche Reise durch Sümpfe und Wälder - von Spürhunden und Kopfgeldjägern gehetzt. Nur im Schutz der Nacht kam sie vorwärts. Im Morgengrauen versteckte sie sich in den Häusern befreundeter Familien, Safe Houses. Ihr Ziel: Philadelphia, das den Sklaven Freiheit gewährte. Die unsichtbaren Gleise führten andere über die Nordstaaten sogar bis nach Kanada.

Die Spurensuche führt weiter nach Cambridge an der Chesapeake Bay, der größten Flussmündung der USA. Die Kleinstadt mit Hafen war einst ein wichtiger Handelsplatz für Sklaven. Heute dümpeln am Anleger von Cambridge Fischerboote vor sich hin - die Austernbänke, die dem Ort Reichtum gebracht hatten, sind längst leergefischt. Fluchthelfer werden diesen Ort auf ihren Rettungsaktionen gemieden haben. Die Staatsmacht saß hier. Vor dem Gerichtsgebäude fanden regelmäßig Sklavenauktionen statt. Zeitzeugenberichte auf der Tour-App beschreiben tumultartige Szenen. Familien wurden auseinandergerissen, einige nutzten das Durcheinander zur Flucht.

Heute ist Tubman am Ortseingang von Cambridge in Überlebensgröße auf einem Wandgemälde zu sehen - um sie herum gruppiert sind weitere Persönlichkeiten der afroamerikanischen Gemeinschaft. Was sofort ins Auge springt: Die Perspektive ist verschoben. Nicht die Passanten schauen auf Harriet, sondern sie fixiert die Passanten als Betrachter. Maler Michael Rosato sagt, er habe Tubman ins Zentrum seines Bildes gesetzt, weil sie für viele Afroamerikaner eine Inspiration war: "Viele dachten: Wenn sie das kann, dann kann ich das auch. Harriet hat ein spirituelles Erbe hinterlassen." Und so schließt sich der Kreis in Cambridge. Hier, wo heute die gestressten Hauptstädter Erholung beim Golfspielen, Segeln, Paddeln suchen und wo jährlich ein Mini-Oktoberfest gefeiert wird, haben Verwaltung und Historiker ein Fenster in die Vergangenheit aufgerissen. Tubmans Blick vergisst kaum ein Besucher. Dabei geht es auch um die Würde der Afroamerikaner und um eine späte Wiedergutmachung, mit der sich die jetzige US-Regierung so schwertut.

Tubman half nicht nur Hunderten Landsleuten, der Sklaverei zu entkommen, sie kämpfte im Bürgerkrieg für die Union gegen die Südstaaten, kundschaftete Stellungen der Konföderierten aus und befreite Gefangene. Nach dem Ende des Bürgerkriegs verweigerte man ihr trotz der Verdienste eine Pension. Erst im hohen Alter, kurz vor ihrem Tod 1913, erhielt sie eine monatliche Rente für ihre Arbeit als Krankenpflegerin. Sie wurde 93 Jahre alt. Von ihrer Zusammenarbeit mit dem US-Militär erfährt man leider erst im Abspann von Hollywoods Harriet-Version.

Reiseinformationen

Der Weg: Der Harriet Tubman Underground Railroad Byway ist eine 230 Kilometer lange Autotour durch Maryland, die man mit einer App abfahren kann. Infos dazu unter harriettubmanbyway.org

Der Audioguide: Der Download der App (Harriet Tubman Byway) im Apple Store und bei Google Play ist kostenlos. Die App ist auch im Internet erhältlich: tubman.oncell.com

Das Museum: Das Harriet Tubman Underground Railroad Visitor Center liegt 20 Autominuten von Cambridge entfernt: 4068 Golden Hill Road, Church Creek, MD 21622

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