Mississippi zehn Jahre nach "Katrina":Früchte des Sturms

One Year Anniversary Of BP Oil Spill Approaches

Zuerst kamen die Waschbären und Schildkröten zurück, dann auch die Touristen. Zehn Jahre zuvor war der Strand begraben unter Schwemmholz und Trümmern.

(Foto: Mario Tama/Getty Images)

Zehn Jahre nach dem Hurrikan "Katrina" profitiert die Golfküste von Mississippi vom Wiederaufbau. Manches ist sogar schöner als zuvor.

Von Jonathan Fischer

In der Kapitänskajüte ist es drückend schwül. Captain Buck nimmt die verspiegelte Sonnenbrille aus dem gebräunten Gesicht, wischt sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn, bevor er antwortet. "Wie wir unsere Schiffe vor dem Hurrikan gerettet haben? Da war nicht nur seemännische Erfahrung im Spiel. Sondern Gottes Hand. Sonst wären unsere drei Dampfer heute Altmetall."

Am Hafen von Gulfport, Mississippi, erinnert bestenfalls ein neu erbauter Leuchtturm an die größte Naturkatastrophe in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Draußen strömen die Passagiere an Bord: Ausflügler in Badelatschen, Eisboxen und Klappstühle schleppende Familien. Captain Buck wird sie für einen Tagesausflug zum zwölf Meilen entfernten Ship Island fahren, einer von Vögeln bevölkerten Sandbank, die zu den als Naturschutzgebiet deklarierten Gulf Islands gehört. Nach Katrina war die Insel zeitweilig im Meer verschwunden. "Nur das 150 Jahre alte Fort Massachusetts blieb stehen", erklärt Captain Buck, der eigentlich Joseph William Buckley heißt. "Die haben das einst so massiv gebaut, um die Küste gegen spanische Kriegsschiffe zu verteidigen. Einen Hurrikan wie Katrina aber konnte sich damals wohl niemand vorstellen."

Bucks Großvater hatte 1926 die Fährlinie nach Ship Island gegründet. Heute zieht nicht nur das im amerikanischen Bürgerkrieg von den afroamerikanischen Louisiana Native Guards bewachte Fort die Touristen an. Vor allem die weißen Sandstrände locken. Während Kapitän Bucks Schiff in einer markierten Fahrrinne nach Süden dampft, deutet er auf vorbeifahrende Tanker und Frachtschiffe: "Achten Sie auf die Bugwelle." Springende Delfine. Auch am Strand von Ship Island spielen die Meeressäuger vor den Liegestuhlreihen, als wären sie eigens dorthin bestellt worden, während Pelikanschwärme über sie hinwegziehen. "Zuerst kamen die Waschbären, die Beutelratten und Schildkröten auf die Insel zurück", sagt Buck. "Und ab 2007 auch die Touristen. Aber vor zehn Jahren hat kaum jemand daran geglaubt."

Damals, am Morgen des 29. August 2005, als Hurrikan Katrina auf die Golfküste traf, gehörten Captain Buck und seine Crew zu denjenigen, die sich den Evakuierungsbefehlen widersetzten. Sie wollten die drei Dampfer und drei Yachten ihrer Familiengesellschaft nicht tatenlos der Sturmflut überlassen. Also fuhren sie die Flotte in einen Bayou, einen Meeresarm, hinter Biloxi. "Wir waren zu acht. Zuerst spannten wir die Schiffe in eine Art Spinnennetz, das sie nach allen Richtungen an Bäumen, Masten, Ankern fixierte. Dann ließen wir die Motoren laufen - auf Vollgas gegen die Flutwelle." Zwölf Stunden später sah Kapitän Louis nur noch die Baumwipfel der Pinien, an die die Schiffe gebunden waren. Die Flutwelle hatte alle Häuser am Ufer weggespült. "Wir retteten viele Menschen, die mit ihren Booten bei uns anlegten. Zum Glück hatten wir genug Wasser, Lebensmittel und Treibstoff gebunkert." Als der Wind nachließ, war Biloxi unter einem Haufen Schwemmholz und Trümmern begraben. "Alles war gerissen. Und nur noch zwei Seile hielten unsere sechs Boote zusammen."

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64 000 zerstörte Wohnhäuser, 235 Tote: Trotz dieser verheerenden Bilanz an der Mississippi-Golfküste scheint die Katastrophe hier weniger Narben hinterlassen zu haben als in der nahen Metropole New Orleans. Vielleicht, weil die Spannungen zwischen den Ethnien hier weniger ausgeprägt sind. Vielleicht auch, weil die örtlichen Behörden schneller reagiert haben. "Wir sind hier alle zusammengerückt", sagt Karen Conner vom Fremdenverkehrsverband Biloxi. "Schwarze und weiße Nachbarn saßen plötzlich gemeinsam im Boot. Die Katastrophe hat tiefe Verbindungen gestiftet. So hat unsere Presbyterianer-Kirche ihre Räume für Gottesdienste der obdachlos gewordenen jüdischen Gemeinde geöffnet."

Biloxi, Mississippi

Der Vollmond steht über dem Strand von Biloxi: Hier hat die Katastrophe tiefe Verbindungen gestiftet.

(Foto: AFP)

Wer heute nach äußeren Hinweisen auf Katrina sucht, der muss schon genau hinsehen. Auf dem Highway 90 zwischen Gulfport und Biloxi erinnern nur noch ein paar Palmstümpfe an die Katastrophe. Und die vielen "Sales"-Schilder. Oft sind die Betonfundamente der einstigen Villen auf den grasüberwachsenen Grundstücken zu erkennen. Warum gerade hier, in Küsten-Bestlage, niemand neue Häuser baut? "Die Beiträge für die Sturm-Versicherung haben sich nach Katrina verfünffacht", sagt Karen Conner vom Fremdenverkehrsbüro in Biloxi. "Das macht Grundstücke in den ersten Reihen unrentabel."

"Da war Gottes Hand im Spiel!"

Erstaunlicherweise haben aber gerade die historischen Häuser den Sturm am besten überstanden. Manche Besitzer nahmen den Sturm gar zum Anlass, ihre Anwesen nach Original-Bauplänen wiederherzustellen. Das White House Hotel etwa stand jahrzehntelang leer. Erst 2007 hat das hochherrschaftliche Gebäude mit seinen weißen Säulen und Balkonen wieder eröffnet, nun knüpft es an die Geschichte des ersten Luxushotels vor Ort an und bringt mit Palmen-Park, Swimmingpool und eigenem Badesteg einen Hauch von Riviera nach Biloxi.

Mit der alten Architektur scheint eine gewisse Beschaulichkeit einherzugehen. Eine Form von frommem Stoizismus, wie es sie nur im tiefen Süden gibt: "Von unserer Töpferei fanden wir nur noch ein paar bunte Scherben", erinnert sich Jim Anderson. "Aber jeder Mensch hat nun mal seine Aufgabe. Was blieb uns also übrig, als die Arbeit wieder aufzunehmen?" Der weißhaarige Mann dreht routiniert an einer Töpferscheibe. Aus dem Fenster der wiederaufgebauten Werkstatt geht der Blick auf den Hafen von Ocean Springs. Dass das verträumte, von Eichen-Alleen, hölzernen Cottages und bonbonfarbenen Boutiquen geprägte Küstenstädtchen als Refugium für Künstler und Bohemiens gilt, hat auch mit Andersons Familie zu tun. Alle sind sie Töpfer und Maler gewesen.

Ein ganzes Museum ist Jims exzentrischem, auf Bäumen lebendem Großonkel gewidmet: das Walter Anderson Museum. Dank seiner Hügellage blieb es wie der historische Kern von Ocean Springs vom Hochwasser verschont: Der Besuch lohnt sich schon wegen der Wandgemälde. "Man's harmony with nature" heißt das größte. "Viele Bürger wollten die angeblichen Schmierereien im ehemaligen Gemeindesaal am liebsten übertünchen lassen", sagt Jim, "bis die Stadt das Haus 1994 zum Museum erklärte. Katrina hat Pete letztlich recht gegeben. Wir müssen die Umwelt respektieren." Heute lockt das Haus Kunstliebhaber nach Ocean Springs - und neugierige Besucher in den Töpferladen von Pete Andersons Enkel.

Wie aber sieht es am einstigen Zentrum des Hurrikans aus? Dort, wo Katrina in Form einer bis zu neun Meter hohen Wasserwand auf das Festland traf? Wer die Meeresbucht nahe der Grenze zwischen Mississippi und Louisiana überquert, dem leuchten erst mal weiße Yachten und aus Naturstein gebaute Hafenmauern entgegen - erst seit 2007 hat Bay St. Louis, eine Kleinstadt mit 10 000 Einwohnern und traditionell die Sommerfrische für betuchte Einwohner von New Orleans, überhaupt einen eigenen Hafen.

Als Nächstes fallen einem diese merkwürdigen Bäume auf: Engelskulpturen. Aus abgestorbenen Eichenstümpfen heraus wachsen Tiere und Geistwesen. "Niemand hat das offiziell beauftragt", erklärt Sally Dicharry, Betreiberin des historischen Aunt Dot's Bed & Breakfast am Hafen. "Aber nach Katrina kamen hier einige Künstler mit der Motorsäge angereist, um dem Ganzen einen Sinn zu geben. Und uns ein paar Schutzengel zu hinterlassen." Im Geäst einer der Eichen hätten sich ihre Nachbarn eine Nacht lang festgeklammert, nachdem ihr Haus vom Sturm weggerissen wurde. "Da war Gottes Hand im Spiel!"

Es ist nicht die einzige Wiederauferstehungsgeschichte von Bay St. Louis. Quert man die Gleise hinter dem historischen Bahnhofsgebäude, hört man aus einer Halle gedämpfte Bluesmusik: "100 Men Hall - Mississippi Blues Trail" verkündet eine Bronzeplakette an dem weit ausladenden Holzschuppen. "Dieses Gebäude war nach Katrina so beschädigt, dass bereits der Abriss beschlossen war", erzählt Jesse Loya, der zusammen mit seiner Frau, der Bluessängerin Kerry Loya im ehemaligen Küchentrakt der Blueshall wohnt. "Aber wie kann man eine Bühne, in der schon Joe Tex, Little Richard, Etta James, B. B. King und James Brown gespielt haben, einfach verschwinden lassen? Solche Orte gibt es doch heute kaum noch."

Loya, selbst Gitarrist einer Bluesband, sperrt die großen Flügeltüren auf: Es riecht etwas modrig. Alte Konzert-Pappen schmücken eine Wand. Ansonsten wirken Tische, Stühle, Bar und Bühne wie anno 1894, als die örtliche afroamerikanische "100 Man Society" hier den ersten von vielen rauschenden Blues-Bällen feierte. Das aus Kalifornien stammende Ehepaar Loya kaufte die zuletzt für Bingo-Veranstaltungen genutzte Halle und richtete sie drei Jahre lang nach Originalvorlagen her. "Als wir die ersten Konzerte veranstalteten, blieb das Publikum aus - und wir waren verzweifelt." Das änderte sich erst 2011, als die Halle offiziell als "Living Blues Monument" ausgezeichnet wurde. Seitdem kommen Besucher aus aller Welt, tanzt man wieder den Blues in Bay St. Louis. "Der Blues hier war noch nie Trauermusik", erklärt Jesse Loya, "sondern die Feier des nackten Lebens gegen alle Widrigkeiten. Seit Katrina kennen wir das alle."

Informationen

Anreise: Täglich von München nach New Orleans hin und zurück mit Air France, ab 770 Euro; www.airfrance.de

Unterkunft: White House Hotel, 1230 Beach Blvd, Biloxi, MS 39530, zwei Personen im DZ ab 130 Euro pro Nacht, www.whitehousebiloxi.com

Aunt Dot's Bed and Breakfast, 222 North Beach Blvd. Bay St. Louis, MS 39520, DZ für zwei Personen ab 55 Euro pro Nacht, www.auntdotsbandb.com

Weitere Auskünfte: Mississippi Gulf Coast Regional Convention & Visitors Bureau, www.gulfcoast.org, Ocean Springs: www.oceanspringschamber.com, Bay St. Louis: www.mswestcoast.org

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